Personalmagazin plus 10/2021

Anwendungsfelder Künstlicher Intelligenz 29 rungskräfte oder HR können sogar auf die Arbeitsbelastung Einzelner hingewiesen werden mit dem Ziel, eine Überlastung zu vermeiden. Ein „Organizational Health Score“ gibt Aufschluss über Zufriedenheit und Teamproduktivität. Mittels KI lassen sich auch Fluktuationsrisiken bei einzelnen Mitarbeitern frühzeitig erkennen. Eine „intelligente“ Analyse der Organisationskultur unterstützt die Zusammenstellung von Projektteams. Häufigstes Anwendungsfeld: Robot Recruiting Die meisten Anwendungsbeispiele existieren allerdings im Be- reich Personalgewinnung. Unter der Bezeichnung „Robot Re- cruiting“ unterstützen Algorithmen die Bewerbersuche und die Kandidatenvorauswahl. Es ist schon längere Zeit möglich, aus einem Lebenslauf, der in digitaler Form von sich Bewerbenden verschickt wird, die wesentlichen Daten wie Adresse sowie schulischem und beruflichem Werdegang automatisch zu er- kennen und in einer Bewerberdatenbank zu speichern. Diesen Vorgang bezeichnet man als „CV-Parsing“. Robot Recruiting geht jedoch weiter und berücksichtigt auch Kandidaten, die sich gar nicht explizit beworben haben, sondern in Form von personen- bezogenen Daten irgendwo im Web, etwa in beruflichen sozia- len Netzwerken, existieren. Robot Recruiting hilft außerdem beim Matching, das heißt dem Abgleich von Kandidaten- und Stellenprofil und erzeugt ein Ranking. Matching funktioniert hierbei ähnlich wie bei einer Online-Partnervermittlung: Es werden möglichst viele Kriterien aus den Bereichen „kognitive Fähigkeiten“, „Wissen“, „Persönlichkeit“ und „Interessen“ aus Bewerber- und Arbeitgebersicht miteinander verglichen und auf Ähnlichkeiten untersucht. Im Idealfall findet der Algorithmus aus einer großen Menge an Stellenangeboten und einer großen Menge an Kandidatenprofilen einige Fälle mit starken Überein- stimmungen. Bei „Job-Recommender-Systemen“ schlagen die Matching-Programme dem einzelnen Kandidaten aufgrund seines Profils geeignete Stellenangebote vor. Bei „Talent-Recom- mender-Systemen“ erhält das Unternehmen Kandidatenvor- schläge, wobei die individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten weitgehend mit den Stellenanforderungen übereinstimmen. Für den Recruiter bleibt somit letztlich „nur“ noch, die finale Auswahl zu treffen. Bei der Erstellung von Stellenanzeigen überprüft KI in Echtzeit die Formulierungen, nimmt eine Bewertung vor, markiert auf- fällige Wörter oder unpassende Bezeichnungen und gibt Formu- lierungshilfen. Bewerber lassen sich hierdurch besser erreichen, weil der Text zielgruppenspezifisch angepasst werden kann. Chatbots führen die Bewerberdialoge und übernehmen die Bewerberdatenerfassung. Sie können fast alle erforderlichen An- gaben über einen Bewerber im Dialog zusammenstellen und strukturiert bereitstellen. Der Recruiter wird unmittelbar über geeignete Kandidaten informiert. Das System kann außerdem die Terminvergabe für Bewerbungsgespräche übernehmen. Hier- bei erhält das Programm einen Zugriff auf die Kalender der am Bewerbungsgespräch zu beteiligenden Personen. Schließlich be- antworten Chatbots allgemeine Fragen rund um Karriere und Arbeitsalltag imUnternehmen. Der Interessent stellt einfach seine Fragen an den Chatbot und muss sich die Informationen nicht mühsam aus den Karrierewebseiten zusammensuchen. Möglicherweise wird KI zukünftig auch verstärkt bei Bewer- berinterviews eingesetzt. Der Konzern Unilever experimentiert bereits seit 2019 mit einer Software, die Gesichtsausdrücke und das Sprachverhalten von Kandidaten analysiert. Die Bewerber und Bewerberinnen nehmen hierbei von sich selbst per Smart- phone oder Laptop ein Video auf, welches anschließend von der Software ausgewertet wird. Alle Personen erhalten die gleichen an das jeweilige Jobangebot angepassten Fragen. Allerdings muss die KI-Software vorher trainiert werden, beispielsweise durch Videos von Mitarbeitern, die bereits in vergleichbaren Positionen tätig sind. Wenn etwa ein Job im Vertrieb neu zu be- setzen ist, dann ermittelt die Software ein typisches Persönlich- keitsmuster, das dann als Maßstab für die neu einzustellenden Personen dient. Ungewollte Diskriminierung vermeiden An dieser Stelle erkennen wir aber auch die Schwächen und Risiken von KI für HR. Die datengetriebenen Systeme lernen, in- dem sie Persönlichkeitsmuster aus der Vergangenheit abbilden. Ausgewählt wird eine Person, die bestmögliche Deckung mit dem Profil des bisherigen Teams bietet. Persönlichkeiten mit andersartigen Skills haben hier kaum eine Chance, sie werden von der KI nicht hoch genug bewertet. Mittlerweile gibt es etliche Beispiele, dass die Verwendung von KI zu unerwünschten und falschen Ergebnissen führt. Amazon setzte vor einigen Jahren KI-Algorithmen für den Rekrutierungs- prozess ein. Auf Basis zahlreicher Bewerbungen aus einem Zeit- raum von mehreren Jahren wurde ein auf maschinellem Lernen basiertes System entwickelt, das automatisch ein Ranking von neu eintreffenden Bewerbungen vornahm. Allerdings stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass die Software einen entscheidenden Fehler machte: Männliche Bewerber wurden bevorzugt, weil Amazon – für den IT-Sektor eigentlich typisch – in der Vergan- genheit hauptsächlich männliche Bewerber eingestellt hatte. Inzwischen wurde das System längst eingestellt. Generell stellt sich daher die Frage, inwieweit wir den Algo- rithmen, insbesondere wenn es um Personalentscheidungen geht, vertrauen wollen und können. Die genaue Arbeitsweise der Software ist allenfalls dem Programmierer bekannt. Wir wissen als HR-Anwender in aller Regel nicht, wie eine KI-Software zu einem Ergebnis gelangt. Als Fazit können wir somit festhalten, dass mittlerweile etliche interessante KI-Applikationen für HR existieren. Hierbei handelt es sich überwiegend um datengetrie- bene schwache KI für Recruiting. Mit der Art und Weise, wie diese Systeme lernen und anschließend Schlussfolgerungen ziehen, ist der HR-Spezialist in aller Regel nicht vertraut. Auch von Betriebsräten sind schon erste kritische Stimmen laut ge- worden. Es gilt also abzuwägen, in welchen Fällen KI wirklich eine sinnvolle Stütze bietet und wo letztlich die Grenzen der heutigen Applikationen liegen. PROF. DR. WILHELM MÜLDER ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Niederrhein.

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