Personalmagazin: Bestimmen in 2022 immer noch die Auswirkungen der Coronakrise den arbeitsrechtlichen Beratungsalltag? Volker Teigelkötter: Die Coronakrise mit ihren zahlreichen Verordnungswellen der vergangenen zwei Jahre hat die Themen der arbeitsrechtlichen Beratung zweifellos stark beeinflusst. Der allgemeine Eindruck, dass seit dem russischen Angriff auf die Ukraine Corona eigentlich kein Thema mehr ist, wird aber auch dem Arbeitsrechtler vermittelt, weil sich spätestens seit Ende Februar 2022 Fragen der Flexibilisierung von Arbeit und Arbeitszeit an die Spitze der Beratungsrangliste gesetzt haben. Infolge der wirtschaftlichen Erholung im zweiten Halbjahr 2021 sind die Unternehmen vielfach mit hohen Auftragsbeständen ins neue Jahr gestartet. Aufgrund von Lieferengpässen und Materialknappheit – teilweise bedingt durch Corona, jedenfalls massiv verstärkt durch die Auswirkungen des Kriegs – kann dieser Auftragsbestand nicht kontinuierlich abgearbeitet werden. Während einige Unternehmen – namentlich in der Automobilindustrie – darauf mit Produktionsstopp und demzufolge erneut mit der Anordnung von Kurzarbeit reagieren, ist die Volatilität in anderen Branchen für dieses Instrument zu hoch. Teilweise ändert sich die Lage von einem Tag auf den anderen. Im Übrigen scheuen viele Unternehmen aus Reputationsgründen und mit Blick auf den Fachkräftemangel davor zurück, Kurzarbeit nach zwei Jahren Corona nun aus anderen Gründen einzuführen. Verbreiteter Gegenstand der Verhandlungen mit Betriebsräten sind deshalb Arbeitszeitmodelle mit Konjunktur- oder Flexikonten, in denen umden Kompromiss gerungen wird zwischen einerseits den Interessen des Arbeitgebers an einer Beschränkung seines Annahmeverzugslohnrisikos sowie dem Hochfahren der Produktion nach Überwinden der Lieferengpässe und dem Interesse der Arbeitnehmervertreter amweitgehenden Schutz der Belegschaft vor einer allzu kapazitätsorientierten Arbeitszeit. Sind Hilfestellungen oder Lösungen vom Gesetzgeber zu erwarten? Hier scheint mir Skepsis angebracht. Vom vielfach geforderten Arbeitszeitgesetz 4.0. fehlt im Koalitionsvertrag nahezu jede Spur. So soll zwar die tägliche Höchstarbeitszeit flexibel verlängert werden können, aber nur durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln, welche den Betriebsparteien in nicht tarifgebundenen Unternehmen vorenthalten werden sollen. Es bleiben also sowohl die beabsichtigte konkrete gesetzliche Regelung als auch die Bereitschaft der Gewerkschaften abzuwarten, solche Tariföffnungsklauseln überhaupt zu vereinbaren. Was tut sich denn in Sachen Arbeitszeiterfassung? Das EuGH-Urteil ist ja inzwischen drei Jahre alt. Laut Koalitionsvertrag beabsichtigt die Bundesregierung, sich der Umsetzung des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung (EuGH vom 14. Mai 2019 – Az. C-55/18CCOO) anzunehmen. Die Praxis wartet dringend darauf. Vor allem in der hybriden „postcoronalen“ Arbeitswelt bedarf es der Klarheit darüber, ob und inwieweit (mobile) Arbeitszeit erfasst werden muss und in welchen Grenzen Vertrauensarbeitszeit möglich bleibt. Zu Letzterer bekennen sich die Koalitionäre im Koalitionsvertrag zumindest. Bis der Gesetzgeber Klarheit schafft, wird die Praxis weiterhin betriebliche Regelungen treffen, deren rechtliche Halbwertszeit indes derzeit niemand vorhersagen kann. Es bleibt also insgesamt spannend und dynamisch im Büro des Arbeitsrechtlers. „ Spätestens seit Ende Februar 2022 haben sich Fragen der Flexibilisierung von Arbeit und Arbeitszeit an die Spitze der Beratungsrangliste gesetzt.“ Interview mit Volker Teigelkötter, Leiter der Praxisgruppe Arbeitsrecht McDermott Will & Emery 43
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