Buchempfehlungen 43 Die Zukunft als Vergangenheit – gibt es nicht. Aber wir können nachlesen, wie man sich früher die Zukunft vorstellte. Dabei erkennen wir, was von zeitloser Relevanz ist – etwa das Thema Künstliche Intelligenz. 1964 veröffentlichte Stanisław Lem, ein „enttäuschter Weltverbesserer“ (Selbstbezeichnung), Essays über die Entwicklung von Technologien und die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Kann die menschliche Intelligenz etwas hervorbringen, das über sie hinausgeht, zum Beispiel einen „Intelligenzverstärker“? Und welche Konsequenzen hätte das? Das zentrale Element eines solchen Apparats wäre – so Lem – eine Blackbox. Wie lässt sich unter diesen Umständen moralisches Handeln gewährleisten? Welche Gefahren birgt eine „Elektrokratie“? Besitzen solche Maschinen ein Bewusstsein? Während aktuell extreme Pro- oder Contra-Positionen dominieren und differenzierte Ansichten selten Aufmerksamkeit finden, nutzt Lem – ähnlich wie Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica – die Dialektik von Fragen, Einwänden und Antworten, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Es geht um Chaos und Ordnung, Kybernetik und Soziologie, Cyborgisierung und Moral. Einige Zukunftsvisionen haben sich nicht bewahrheitet. Anderes, was heute Realität ist, hat man früher nicht vorhergesehen. Aber damals wie heute gilt: Man muss weiterdenken als man kommt. Eine Utopie ist ein ortloser Zustand. Aber der Wunsch nach einer besseren Zukunft ist im Hier und Jetzt beheimatet und muss sich im aktuellen Handeln manifestieren. Die Zukunft der Gesellschaft liegt in den Händen von Organisationen. Einzelne Menschen, Bewegungen, können Einfluss nehmen. Aber die wirkmächtigen Entscheidungen in Fragen von Politik, Recht, Wirtschaft und Einsatz von Technologie werden in Organisationen getroffen. Ich habe noch kein Buch gefunden, das die Eigenheiten von Organisationen so präzise beschreibt wie „Funktionen und Folgen formaler Organisationen“ von Niklas Luhmann. Nicht nur liefert das Buch Antworten auf die Fragen, wieso Menschen in Organisationen so anders handeln. Es enthält auch das beste Werkzeug, um mit den Problemen in Organisationen klug umzugehen: die funktionale Analyse. Mit der funktionalen Analyse kann man auf Seltsamkeiten und Probleme in Organisationen mit anderen Augen schauen. Statt anzunehmen, dass Menschen sich sinnlos oder falsch verhalten, geht man davon aus, dass sie dabei sind, gerade eine Leistung beziehungsweise eine Funktion bereitzustellen. Jetzt muss man nur noch herausfinden, worauf diese Funktion zielt. Dann kann man sich auf die Suche nach funktionalen Äquivalenten machen, deren Anbieten das problematische Verhalten unnötig machen. Das Spannende ist, dass die Methode zeitlos ist. Egal welche Organisationsstruktur im Trend ist und egal wie viele Prozesse digitalisiert wurden: Jede Entscheidung für bestimmte Funktionen und Vorteile ist auch eine Entscheidung für Folgen und Nachteile. Die Mitglieder der Organisation werden mit diesen Folgen ganz von selbst einen Umgang finden – und als Organisationsgestalter hat man mithilfe der funktionalen Analyse das Werkzeug an der Hand, um die Wechselwirkungen zu verstehen und die Problembearbeitung zu gestalten. Martin Kersting Professor für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen Judith Muster Partnerin der Organisationsberatung Metaplan Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisationen. Duncker & Humblot, 1999 (5. Auflage), 89,90 Euro. Stanisław Lem: Summa technologiae. Suhrkamp, 2016 (aktuelle Auflage), 29 Euro.
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