Unsere gegenwärtige gesetzliche Rentenversicherung wurde zu Beginn des Jahres 1957 eingeführt – also zu einer Zeit, in der die dauerhafte Vollzeitbeschäftigung die Regel und durchbrochene Erwerbsbiografien unbekannt waren. Zudem konnte man sich vor 70 Jahren nicht vorstellen, dass eine Rentenversicherung als Folge niedriger Geburtenraten in Schwierigkeiten geraten könnte. Versteht man unter „lebensstandardsichernd“ solche Alterseinkommen, die zumindest 70 Prozent der in den letzten Erwerbsjahren bezogenen Nettoentgelte entsprechen, dann waren unsere gesetzlichen Renten zu keinem Zeitpunkt lebensstandardsichernd. Der Grund: Die Festsetzung der Höhe der Zugangsrenten nach dem Äquivalenzprinzip. Dieses einer Monstranz gleich hochgehaltene Prinzip, welches nur in acht der 38 Industriestaaten der OECD zur Anwendung kommt, zielt darauf ab, dass Rentner und Rentnerinnen in der Verteilungspyramide der Rentenempfänger genau die Position einnehmen, die sie während der Dauer ihrer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in der Pyramide der Lohnempfänger hatten. In der Lebenswirklichkeit wird die gewünschte Höhe der Altersbezüge in aller Regel vom Einkommen während der letzten Arbeitsjahre bestimmt. Und wenn man die „Generosität“ eines Rentensystems an der Ersatzrate bemisst, also dem Verhältnis von Bruttorentenanspruch und der Höhe der letzten Bruttoarbeitsentgelte vor dem Renteneintritt, dann liegt das deutsche Rentensystem ziemlich weit hinten in der Rangfolge der Industrieländer. Zu den Spitzenreitern zählen Österreich, Spanien, die Niederlande und Luxemburg. Vordringlichere Aufgaben Wenn es in Deutschland eine vordringliche rentenpolitische Aufgabe gibt, dann besteht diese weniger in der Gewährleistung eines stabilen – aber hinsichtlich der individuellen Rentenhöhe wenig aussagekräftigen – Rentenniveaus, sondern mehr darin, die Armutsfestigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen. Dies ist umso mehr geboten, als demnächst gerade in Ostdeutschland ein Armutsschub unter den Rentenempfängern zu erwarten ist – wenn die „Vereinigungsverlierer“ das Erwerbsleben verlassen. Dies wiederum ist umso mehr ein drängendes Problem, da in den neuen Ländern die private Vermögensbildung vergleichsweise gering ist und Wohneigentum oder Betriebsrenten wenig verbreitet sind. Vor diesem Hintergrund wäre es erwägenswert, die – von den Beitragsleistungen und Steuerzuschüssen unabhängigen – Nettoerträge des sich im Aufbau befindenden Generationenkapitals nicht zur generellen Kofinanzierung aller gesetzlichen Renten einzusetzen, sondern gezielt zur Aufstockung geringer Rentenzahlbeträge – trotz langjähriger Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung. PROF. EM. DR. DR. H.C BERT RÜRUP, Chefökonom des Handelsblatts, war viele Jahre Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und rentenpolitischer Berater der deutschen Bundesregierung sowie Berater ausländischer Regierungen und internationaler Gremien zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. An der TU Darmstadt leitete er das Fachgebiet Wirtschafts- und Finanzpolitik. 57 Rentensystem
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