Personalmagazin 9/2024

Früher personalmagazin 09.24 54 gen zu realisieren. Der EGKS-Vertrag von 1951 enthielt daher keinerlei Arbeitsrechtsregelungen im eigentlichen Sinne. Der EURATOM-Vertrag enthielt in Art. 30–36 zwar Regelungen zum Gesundheitsschutz der Arbeitskräfte, jedoch blieb deren Bedeutung aufgrund des begrenzten Regelungsbereichs des Vertrags, nämlich die Gewinnung und Vermarktung von atomarer Energie und spaltbaren Produkten (Art. 2 EURATOM-V), nicht prägend für die weitere Entwicklung. Der EWG-Vertrag von 1957 enthielt wichtigere Regelungen, die bis heute einen zentralen Bestandteil des Europäischen Arbeitsrechts bilden. Jedoch lag auch hier der Fokus vor allem auf der Sicherung der Wettbewerbsfreiheit: Er sicherte die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die als eine wesentliche Voraussetzung für die Wettbewerbsfreiheit der Arbeitgeberseite erkannt und eben deshalb geschützt wurde. Stärkeren arbeitsrechtlichen Bezug hatte der Gleichbehandlungsgrundsatz, der europaweit den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen festschrieb. Aber: Die Regelung hatte damals weniger arbeitsrechtlichen, denn wettbewerbs- und wirtschaftsrechtlichen Wert. Vor allem Frankreich wollte Wettbewerbsvorteile anderer Mitgliedstaaten verhindern, nachdem es bereits den Grundsatz der Entgeltgleichheit in seinem nationalen Arbeitsrecht eingefügt hatte und daher erhebliche Nachteile seines Wirtschaftsstandorts befürchtete. Heute sind wir davon – zum Glück – weit entfernt. Das Arbeitsrecht steht auf eigenen Füßen. Und in Zeiten von Diversity und Inclusiveness haben die Diskriminierungsverbote immer mehr an Bedeutung gewonnen. In einer so heterogenen Gesellschaft wie der unsrigen mag es nicht viel geben, was allgemein gesellschaftlich konsensfähig ist, aber das Verbot der Diskriminierung gehört sicherlich dazu, auch wenn manchmal fraglich ist, was denn eine Diskriminierung und was Gleichbehandlung ist. Die Abgrenzung ist zuweilen schwierig und in hard cases nicht trennscharf. Man nehme an, jeder müsse zehn Prozent Steuern zahlen: Ist das eine zu rechtfertigende Benachteiligung des Besserverdienenden, weil der, der mehr verdient, mehr zahlt? Ist das eine Gleichbehandlung, weil der Prozentsatz gleich ist? Ist das eine Benachteiligung des Geringverdienenden, weil für ihn zehn Prozent schwerer aufzubringen sind als für den Besserverdienenden, und die Progression der Steuersätze daher eine Frage der Ungleichbehandlung? Oder arbeitsrechtlich: Jeder muss die Treppe hoch – auch die Rollstuhlfahrer? Solche Fragen werden künftig eher mehr als weniger – erst recht die Frage, wann eine Ungleichbehandlung ungerechtfertigt ist oder nicht. Wie man es auch sieht: Gleichheit erfordert zuweilen die Gleichbehandlung von Ungleichen (Schulzulassung von schwächeren Schülern mit Migrationshintergrund) oder die Ungleichbehandlung von Gleichen (Frauenquoten). Die mag nun rechtfertigungsbedürftig sein, aber eben auch der Rechtfertigung zugänglich, wenn das Ziel, das hierdurch erreicht werden kann, hinreichend schwer wiegt. Und ein solches Ziel kann die Begrenzung von Verschiedenheit der Lebensbedingungen sein, weil eben diese Verschiedenheit nur in einem bestimmten Maß akzeptiert werden kann, ohne dass es Menschen entmutigt, Gesellschaften spaltet und soziale Gruppen von der gesellschaftlichen Teilhabe faktisch ausschließt. Es geht darum, diese Rechtfertigungsgründe zu benennen, in ihrem Gewicht zu bestimmen und sie mit anderen Zielen der Gerechtigkeit – Freiheit der Personen und der Entscheidung, Wohlstand als Voraussetzung der Realisierung von Freiheit, Achtung der personalen Würde des jeweils anderen – in Einklang zu bringen. All diese Aspekte – nicht minder wichtig – können es verbieten, die formale Gleichbehandlung zu durchbrechen. Die Diskussion darf also nicht bei der Frage nach einem Mehr oder Weniger an Ungleichheit stehen bleiben, sondern muss fragen: Welche Ungleichheit wollen wir, weil wir sie als gerechter als die Gleichheit empfinden? Und welche Gleichheit brauchen wir, weil eine faktische Ungleichheit in diesem Punkt zu Folgewirkungen führen würde, die wir nicht wollen, oder schlicht die Ungleichheit selbst – weil unverschuldet – nicht akzeptiert werden soll. Die Antwort auf diese Frage liegt außerhalb egalitärer Konzepte und muss immer wieder von Neuem gefunden werden. Eine ausgewogene Balance muss das Ziel sein. Die Politik steht nicht vor der Aufgabe, recht heterogene Wahlkampfversprechen einzulösen und durch punktuelle Ausweitung oder Rückführung des arbeitsrechtlichen Schutzsystems Reformwillen zu bekunden. Gefragt ist eine umfassende Sichtung des vorhandenen Normbestands, dessen Wägung, Verklarung, Entrümpelung und Flexibilisierung. Wem der Umbau des Arbeitsrechts wie eine Scylla vorkommt, der mag bedenken, dass anderenfalls die Charybdis dysfunktionaler Regelung immer näher kommen könnte. Auch Odysseus konnte nur das kleinere Übel wählen. Der deutsche Gesetzgeber wird nicht umhinkommen, ein Gleiches zu tun. Ziel ist nicht die Übervorteilung der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgeberseite, sondern eine neue, beschäftigungsfreundliche, sozial ausgewogene, integrierende Balance im Arbeitsrecht. „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ sang einst der große Wolf Biermann. In der Tat: Neue Zeiten brauchen neues Recht. PROF. DR. GREGOR THÜSING ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und innovativer Vordenker des Arbeitsrechts. Doch nicht zuletzt drängt auch Europa auf mehr Tarifbindung. Foto: Thekla Ehling

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==