Früher personalmagazin 09.24 52 dieser Vorläufer war das neue Gesetz eine damals zuweilen heftig kritisierte, zuweilen begeistert begrüßte Neuerung: Die Demokratisierung des Arbeitsplatzes, eine institutionell verankerte Mitbestimmung durch die Belegschaft, wurde hier erstmals durch den Gesetzgeber anerkannt. Das waren Forderungen, die nicht nur von Seiten der Sozialdemokratie und den Sozialisten erhoben wurden, sondern auch wirkungsmächtige Fürsprecher im Bereich der katholischen Soziallehre hatten. Freilich gab es nicht weniger Gegner. Die Parlamentsdebatte war begleitet von blutigen Auseinandersetzungen; Reichspräsident Ebert musste den Ausnahmezustand verhängen. Die gesellschaftlichen und ideologischen Spannungen der noch jungen Republik traten offen zu Tage. „Voraussetzung für die Gemeinschaftsarbeit ist die volle Gleichberechtigung der Arbeitnehmer auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet“, stellte Reichsarbeitsminister Schlicke fest, nachzulesen in den parlamentarischen Protokollen des Reichstags. Der Abgeordnete Schneider ergänzte für die Deutschen Demokraten, das neue Arbeitsrecht mache aus dem Machtverhältnis ein Rechtsverhältnis. Heere Worte, doch trafen sie damals die Meinung von vielen – auch heute noch. Im internationalen Vergleich bleibt dies bis heute eine deutsche Besonderheit. Vergleichbare Strukturen neben der Vertretung durch Gewerkschaften kennen allein Österreich, Luxemburg und die Niederlande. Die betriebliche Mitbestimmung ist dennoch fest verankert in der betrieblichen Wirklichkeit und der sie konstituierenden Gesetzgebung – und das ist gut so und dabei sollte es bleiben. Kirchen, Parteien, Gewerkschaften – sie alle verlieren an Mitgliedern. Die mediatisierenden Instanzen gehen einer Gesellschaft verloren, die so dringend nach Zusammenhalt sucht. Mitbestimmung kann dazu beitragen. Rückgang der Tarifbindung Schließlich gilt der Blick den Gewerkschaften als zentralen kollektiven Akteuren. „Wir wollen die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung stärken.“ Die Ankündigung des Koalitionsvertrags harrt immer noch der Umsetzung. Doch nicht nur die Opposition hat hier mit eigenen Anträgen bereits vorgelegt, kurz vor der Sommerpause gab es noch eine Plenardebatte mit sehr kontroversen Beiträgen. Die einen betonten die Notwendigkeit, zu breiterer Tarifbindung zu kommen, die anderen die Freiwilligkeit, die jedem Abschluss und jeder Geltung des Tarifvertrags zugrunde liegen müsse; nur dann könne man von Autonomie sprechen. Doch nicht zuletzt drängt auch Europa auf mehr Tarifbindung. Die Mindestlohnrichtlinie ist bis November 2024 in nationales Recht umzusetzen. Deren Artikel 4 verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung durch die Sozialpartner. Die Maßnahmen, die die Richtlinie nennt, sind vielfältig: Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner, Förderung konstruktiver, zielführender und fundierter Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern, Schutz der Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung und Schutz der Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter vor Handlungen, durch die sie in Bezug auf ihre Beschäftigung diskriminiert werden, Schutz von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen der jeweils anderen Seite oder ihrer Vertreter oder Mitglieder in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung. Inwieweit die EU überhaupt gesetzgeberischen Zugriff auf das Tarifvertragsrecht hat, ist freilich umstritten. Immerhin bestimmt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausdrücklich, es bestehe keine Kompetenz „für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht“. Aber die Richtlinie ist nun da und sie schafft damit Fakten. Und zu den Fakten gehört eben auch: 2021 arbeiteten nur noch 54 Prozent der Beschäftigten im Westen und 45 Prozent der Beschäftigten im Osten in einem Betrieb, für den ein Tarifvertrag galt. Die Tarifbindung ist seit 1998 um 22 (West) beziehungsweise 18 (Ost) Prozentpunkte zurückgegangen. Stärkung der Tarifbindung durch marktregulierende Eingriffe? Was also tun? Ein Vorhaben hat der Koalitionsvertrag bereits ausdrücklich benannt: „Zur Stärkung der Tarifbindung wird die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags der jeweiligen Branche gebunden.“ Ein Referentenentwurf liegt hier bereits seit Anfang Mai 2023 vor, ohne dass er es bislang in die Ressortabstimmung geschafft hätte. Öffentliche Aufträge sollen künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich verpflichten, den an der Ausführung beteiligten Arbeitnehmern mindestens die am Ort der Leistungsausführung üblichen Tariflöhne zu zahlen. Alle Bundesländer – bis auf Bayern und Sachsen – haben solch ein Gesetz bereits. Einige Stimmen verkünden bereits die Europa- und Verfassungswidrigkeit des Vorhabens. Das erscheint vielen vielleicht dann doch als ein wenig zu mutig. Eine rechtspolitische Diskussion sollte sich in erster Linie nicht daran orientieren, ob ein solches Gesetz Olaf Scholz und der Heilige Vater scheinen also einer Meinung zu sein.
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