Personalmagazin - Neues Lernen 3/2024

69 Führung Wohlfühlen bei der Arbeit hängt von vielen Faktoren ab. Viele beklagen, dass sich die Belastung und der Zeitdruck erhöht haben. Wie ordnen Sie das ein? Zeitknappheit, Arbeitsdruck und zunehmende Belastung sind definitiv Faktoren, die den Menschen in seiner Verletzlichkeit treffen und verschärfen. Übersteigerter Arbeitsdruck macht krank. Der Kurs der Arbeitswelt darf nicht sein: Immer mehr Verdichtung. Menschen brauchen Herausforderungen, aber auch Freiräume, um frei denken zu können. Den Effizienzdruck, den Betriebe spüren, weil sie immer mehr Ausgaben haben, dürfen wir nicht auf Mitarbeitende verlagern. Wir müssen die Grenze der Belastbarkeit von Mitarbeitenden im Blick behalten, sonst verlieren sie ihre Identifikationsmöglichkeit. In vielen Bereichen transformiert sich die Arbeitswelt Richtung flache Hierarchien, agile Organisation und Entscheidungsstrukturen. Trägt das dazu bei, das Bewusstsein für geteilte Verletzlichkeit und gemeinsames Tun zu erhöhen? Der Vorteil flacher Hierarchien ist der: Sie ermöglicht zum einen individuelle Kreativität. Menschen können kreativ sein, wenn man sie lässt. Zum anderen stiftet sie ein höheres Gemeinschaftsgefühl – das Gefühl, als Team ein Ziel erreichen zu wollen und zu können. Gleichwohl glaube ich, dass es Menschen geben muss, die Letztverantwortung übernehmen, die den Überblick zu allen Prozessen haben und nachjustieren können. Es braucht eine Balance aus der Notwendigkeit des Direktiven und der Ermöglichung individueller Kreativität. Würden Sie Führungskräften insgesamt eine Vorbildfunktion zusprechen? Wichtig ist zunächst, dass Führungskräfte authentisch bleiben und keine Rolle übernehmen, die ihnen nicht liegt. Ihrer Vorbildfunktion sollten sie sich insofern bewusst sein, als dass sich Mitarbeitende vor allem eines erhoffen: Gerechtigkeit. Nicht nur Leistungsgerechtigkeit, es geht um die Vermittlung gleicher Anerkennung für alle. Für ethische Grundprinzipien einzustehen, eine klare Haltung und Überzeugung mitzubringen. Kurzum: Integrität zu verkörpern. Wie schätzen Sie unsere Kultur gesamtgesellschaftlich ein? Ist der Mensch mehr verletzenden Faktoren ausgesetzt? Ich bin grundsätzlich kein Kulturpessimist. Der Mensch hat eine natürliche Sehnsucht danach, mit anderen Menschen in guten Beziehungen zu leben. Das ist gut, heute aber definitiv schwieriger. Zwar haben wir die Möglichkeit, schneller mit Anderen in Kontakt zu treten, was dabei aber verloren geht, ist die Verbindlichkeit und Tragfähigkeit von Beziehungen. Zugleich evoziert das einen Konformitätsdruck, das Gefühl immer interessant sein zu müssen, das in stetiger Selbstdarstellung mündet. Damit verliert man auch Authentizität, die so wichtig ist für die Widerspiegelung durch andere. Wir können klar sagen: Die Gefahr der Einsamkeit ist größer als je zuvor, weil verlässliche Beziehungen fehlen. Was könnten wir dagegen tun? Wir müssen uns klar machen: Je virtueller die Welt wird, desto wichtiger werden echte menschliche Begegnungen. Wir brauchen Beziehungen, die tragfähig sind. Es reicht nicht, in das rein Virtuelle zu flüchten. Wir müssen Virtualität mit der Notwendigkeit verknüpft wissen, direkte menschliche Begegnungen zu fördern und Zuspruch zu erhalten. Wir müssen unsere Wahrnehmung für die Abhängigkeit des Anderen schärfen. Was heißt das aber für eine Arbeitswelt, die sich zunehmend flexibilisiert und in der konstante, direkte Kontakte nicht mehr gesichert sind? Wenn ein Betrieb funktionieren soll, müssen die Menschen das Gefühl haben, dass sie eine Gemeinschaft bilden. Direkte menschliche Begegnungen sind nicht nur hilfreich, sondern notwendig, um Verbindlichkeit und Kontinuität herzustellen und der Volatilität entgegenzutreten. Flexibilität zu ermöglichen, heißt nicht, dass wir eine pure Beliebigkeit zulassen sollten. Sich virtuell zu begegnen, kann als Überbrückung und Erleichterung hilfreich sein. Und wenn ein Team bereits reale Bindungen aufgebaut hat, kann das auch verbindend sein. Aber sich nur im virtuellen Raum zu begegnen, das ist nicht verbindend. Wir brauchen eine Verknüpfung beider Modi und müssen Präsenz ermöglichen, um uns nahe zu bleiben und mehr voneinander zu erfahren als wir über Mails und Chats erfahren können. Wenn wir von virtuellen Welten sprechen, liegt zum Abschluss ein Thema auf der Hand: künstliche Intelligenz. Wie stehen Sie dazu? Der Begriff Intelligenz ist für mich eigentlich falsch. Wir sprechen von ausgefeiltem Rechnen und Korrelationen. Aber Einsicht in die gesamthafte Komplexität hat nur der Mensch, denn dafür braucht es verschiedene Formen kognitiver Leistungen: Vielleicht kann künstliche Intelligenz, wenn wir dennoch beim Begriff bleiben, eine traurige Stimme erkennen und errechnen, aber niemals wissen, was es etwa bedeutet, traurig zu sein. Computergestützte Entscheidungssysteme haben unbestritten großes Potenzial, Prozesse sicherer zu machen, zu beschleunigen, Daten zusammenzuführen und den Menschen zu unterstützen, aber niemals zu ersetzen. PROF. DR. GIOVANNI MAIO hat Philosophie und Medizin studiert, war selbst internistisch-klinisch tätig und ist in Medizinethik habilitiert. Derzeit arbeitet Giovanni Maio als Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die »Ethik der Verletzlichkeit«, wozu er 2024 ein gleichnamiges Buch veröffentlicht hat.

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