68 neues lernen – 03/2024 Kultur der Sorge, eine Kultur, in der wir umsichtig miteinander umgehen. Wir müssen den Anderen als verletzliches, weil angewiesenes Wesen erkennen und den Blick dafür schärfen, was andere Menschen benötigen, um nicht verletzt zu werden. Es ist unsere Verantwortung, Menschen günstige Bedingungen mitzugeben, damit sie so souverän wie möglich agieren können. Der Mensch braucht ein Gefühl der Selbstkwirksamkeit, aber ohne Andere und entsprechende Bedingungen, die auch Andere für ihn kreieren, wird das Glück nicht gelingen. Das gilt natürlich auch – und gerade für die Arbeitswelt. Der Mensch ist keine Maschine, die einfach funktioniert. Wer im Arbeitsleben keine guten Bedingungen vorfindet, der wird nicht abrufen, was er kann. Welche Bedingungen braucht es denn konkret, damit der Mensch sich unverletzt entfalten kann? Menschen verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit bei der Arbeit. Insofern ist es zentral, dass sie sich in besonderer Weise mit dem identifizieren, was sie tun – und mit den Zielen dieses Tuns. Es muss Raum bestehen, Eigeninitiative und Freiheit bei der Arbeit zu haben. Die Arbeitsbedingungen müssen so geschaffen sein, dass sich der Mensch als integraler Teil eines Ganzen versteht, dessen Werte er auch teilt. Sich selbst als wichtigen und nicht austauschbaren Teil zur Zielerreichung zu verstehen, sich zugleich aber nicht nur als Instrument dafür, sondern als Persönlichkeit verstanden zu wissen. Das sind unabdingbare Grundbedingungen. In welchem Maß sind wir in der Arbeitswelt – in der Rolle der Mitarbeitenden – verletzlich? Gerade in der Arbeitswelt spielt Verletzlichkeit eine große Rolle. Hier kann ich als Mensch mit Situationen konfrontiert werden, die meinen Selbstwert tangieren, wenn ich mich als Niemand fühle, nicht wertgeschätzt und nicht gesehen werde. Wir brauchen also auch hier eine Kultur der Wertschätzung, denn jeder Mensch ist angewiesen auf Anerkennung in seinem beruflichen Tun. Das hängt auch nicht von dessen Position, Aufgabenlevel oder -fülle ab. Und natürlich müssen wir Berufliches von Privatem trennen. Wer aber als Beschäftigter verletzt wird, ist es als ganzer Mensch. Wir können unser Menschsein nicht professionell entkoppeln. Den Menschen auf seine Funktion zu reduzieren und das Menschsein bei der Arbeit zu ignorieren, wäre fatal. Wir dürfen nicht nur danach fragen: Was können wir von Beschäftigten fordern, sondern auch: Was können wir für sie tun? Häufig sind es Führungskräfte, die etwas einfordern, Leistung und Engagement. Was bedeutet das Wissen um Verletzlichkeit für Führungskräfte? Das eine ist zunächst: Jeder Mensch ist verletzlich, also auch Führungskräfte. Es gilt eben nicht: Führungskräfte sind stark und Mitarbeitende schwach. Wir brauchen das Bewusstsein einer geteilten Verletzlichkeit. Dazu gehört auch, dass Führungskräfte realisieren, wie abhängig sie von den Anderen sind, dass wir nur gemeinsam weiterkommen. Man kann nur führen, wenn man die Fähigkeit hat, die Anderen für die Ziele, die man verfolgt, zu überzeugen und mitzunehmen. Verordnen von oben reicht nicht. Führungskräfte müssen sich für die Innenperspektive der Mitarbeitenden interessieren, dialogisch agieren und Beschäftigte an notwendigen Veränderungsprozessen auch partizipieren lassen. Was meinen Sie genau mit Innenperspektive? Nicht das Privatleben, sondern die Bedürfnisse bei der Arbeit. Eine Führungskraft kann nur erfolgreich sein, wenn sie weiß, was in ihren Mitarbeitenden vorgeht, wenn sie arbeiten. Was freut sie besonders, was fehlt vielleicht bei der Arbeit? Fühlen sich meine Mitarbeitenden wohl? Kann ich noch etwas verbessern? Führungskräfte haben gegenüber ihren Mitarbeitenden eine Fürsorgepflicht. Lässt sich das Wohlbefinden bei der Arbeit immer von der privaten Perspektive trennen? Natürlich kann es sein, dass Mitarbeitende durch private Lebenskrisen in eine Situation verschärfter Verletzlichkeit geraten, die die Arbeitswelt tangieren kann. Aufgabe der Führungskraft ist es, dafür sensibel zu bleiben – aber nicht in übergriffiger Weise, dass sich Mitarbeitende erklären müssen. Vielmehr geht es darum, die persönliche Begegnung zu suchen und eine Gesprächskultur aufzubauen, die ein Gefühl dafür gibt, wie es dem oder der Anderen geht. »Führungskräfte müssen sich für die Innenperspektive der Mitarbeitenden interessieren, dialogisch agieren und Beschäftigte an notwendigen Veränderungsprozessen partizipieren lassen.«
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