67 Führung Herr Maio, Sie forschen zum Thema Verletzlichkeit, das uns als Gesamtgesellschaft und auch in der Arbeitswelt angeht. Was verstehen Sie unter dem Begriff? GIOVANNI MAIO: Verletzlichkeit ist eine Grundverfasstheit des Menschen, etwas, das wir, weil es unsere Natur ist, nicht ablegen können. Verletzlichkeit beschreibt die Angewiesenheit des Menschen auf ein Gegenüber, auf gute Grundbedingungen und seine Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen. Der Begriff ist auch darum so gehaltvoll, weil er bereits eine Differenzierung in sich trägt. Verletzlichkeit heißt eben nicht, dass wir per se verletzt sind, sondern als Mensch genuin verletzlich. Verletzlichkeit heißt, auf Wertschätzung und gute, soziale Grundbedingungen angewiesen zu sein. Das gilt auch und gerade für die Gestaltung der Arbeitswelt – und hat Konsequenzen für die Haltung von Führungskräften, wie Professor Giovanni Maio betont, der das Thema erforscht. H Das heißt, Sie denken den Begriff Verletzlichkeit holistisch, also physisch und seelisch? Definitiv. Verletzlichkeit berührt alle Sphären des Menschen. Der Begriff ist im Grunde eine Metapher. Es geht nicht nur um körperliche Verletzlichkeit, sondern um viel mehr. Wir werden auch verletzt, wenn jemand uns nicht beachtet, wenn wir alleine gelassen werden, wenn wir keine Anerkennung bekommen, uns Gleichgültigkeit begegnet. Denn der Mensch ist ein relationales Beziehungswesen, auf Begegnung und Anerkennung angewiesen. Sie haben zur „Ethik der Verletzlichkeit“ ein Buch veröffentlicht und auch bereits in einigen Podcasts dazu gesprochen. Warum treibt Sie das Thema so um? Die Thematik der Verletzlichkeit ist für mich eine besonders wichtige, weil sie uns ermöglicht, einen neuen Blick auf den Menschen zu richten. Seit den 1970er Jahren hat sich zunehmend eine von der Ökonomie durchdrängte Denkweise etabliert. Der Mensch wurde fortan als autark, selbstmächtig, als Unternehmer seiner selbst betrachtet. Das stört mich. Natürlich ist der Mensch autonom, aber auch in seiner Autonomie bleibt der Mensch verletzlich. Mit der Verletzlichkeit, die beschreibt, dass Menschen aufeinander angewiesen sind, will ich kein gegensätzliches, aber komplementäres Bild erzeugen. Wenn der Mensch sich nur als Ich-AG begreift und das Soziale wie ein Unternehmen führt, riskieren wir, das Soziale abzubauen. Zu verstehen, dass der Mensch verletzlich ist, ist damit ein Appell. Inwiefern? Insofern, als dass wir alle als Gesellschaft dafür Sorge tragen müssen, dass der Mensch nicht verletzt wird. Wir brauchen eine
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