Personalmagazin - Neues Lernen 3/2024

Führungsgeflüster M anche halten Paranoia für ein positives Merkmal von Top-Führungskräften. In einem Umfeld mit starken geopolitischen Verwerfungen und rasanten Shifts am Kapitalmarkt hat eine nach Bedrohungen ausschauende Haltung durchaus etwas für sich: Natürlich müssen Vorstände und Top-Führungskräfte laufend damit rechnen, dass der nächste technologische Trend, die nächste Disruption um die Ecke kommt, die ihr Unternehmen und auch ihr eigenes Schicksal in demselben gefährdet. Doch diese Vorsicht kann ein paranoides Ausmaß annehmen, das kontraproduktiv ist und sich nach innen richtet – gegen die eigene Organisation und gegen sich selbst. In meinen Coachingsitzungen mit C-Level-Executives wähne ich mich immer öfter in einem der dunkelsten Kriminalfilme. Überall sehen Führungskräfte Feinde. So kommt etwa ein CEO zu mir, der es in einer Unternehmenstochter mit einem sehr selbstbewussten Konterpart als CEO zu tun hat. Der lässt ihn am langen Arm verhungern – und mein Coachee glaubt, dahinter stecke fiese Methode. Ein launiger Kommentar im Meeting, eine kurze E-Mail – alles bezieht er auf sich und wertet es als Zeichen, dass sein Konterpart ihn „killen“ wolle. Seine Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung: Er haut so richtig drauf und lässt sein Umfeld die harte Hand spüren. Das macht die Sache nicht eben besser, denn einer Hydra gleich wachsen an der Stelle, wo er zuschlägt, gleich zwei Köpfe, sprich noch mehr Feinde nach. Natürlich reagiert das Umfeld auf solch ein Verhalten mit Feindseligkeit. Mehr noch: Er bewirkt damit, dass er das Unternehmen in zwei Lager spaltet – für ihn oder gegen ihn. Ein anderer Topmanager, den ich jetzt als Coach begleite, hat erlebt, was solches Verhalten auslösen kann: Er wurde degradiert. Das traf ihn hart, denn er konnte lange auf der Erfolgswelle schwimmen. Gegenwind? Das war er nicht gewohnt. Statt sich aus der Situation wieder selbst herauszuarbeiten, machte er sie nun noch schlimmer. Indem er alle als Feinde betrachtete, grub er sich noch tiefer in das Loch, das er sich selbst gegraben hatte: Er bekämpfte seine Feinde bis aufs Blut. Selbst die Friedensflagge wird dann noch als Feindeserklärung interpretiert. So etwas geht nicht lange gut. Wenn Führungskräfte sich in die Wahnvorstellung versteifen, jeder wolle ihnen Übles, gibt es meistens einen Auslöser: Verunsicherung. Diese kann in Erlebtem verwurzelt sein, wenn die Person zum Beispiel viel Ablehnung erfahren hat. Aber es ist auch kein Wunder, dass angesichts der wirtschaftlichen Lage dieses Phänomen zugenommen hat. Der harsche Ton, der bisweilen auf Social Media und im politischen Diskurs herrscht, mag die feindseligen Reaktionen noch zusätzlich verstärken. Dann ist es meine Aufgabe als Coach, diese Führungskräfte aus ihrer persönlichen Interpretationsblase herauszuholen: Wir erarbeiten, dass es sich oft um ganz natürliche Rollenkonflikte handelt und nicht um persönliche Anfeindungen. Wir ändern Perspektiven und suchen im Coaching verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des Verhaltens. Oft reift dabei die Erkenntnis: Die kämpfen nicht gegen mich, sondern für sich. So kann man den Automatismus, alle als Feinde zu betrachten, überschreiben und ins Multiversum der Meinungs- und Positionsvielfalt zurückkehren. PROF. HEIDI STOPPER ist eine der gefragtesten C-Level-Coachs. Sie hat viele Jahre erfolgreich als Führungskraft in verschiedenen Branchen und Ländern gearbeitet, zuletzt als CHRO im MDax. Die Professorin für Leadership und Organisational Behaviour sitzt in vielen Beiräten und engagiert sich für soziale Themen. Feinde, so weit das Auge reicht 65

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