VonTiktok abgeschaut Datenempathie N eulich hat mir meine Mutter ein Tiktok geschickt; es ging ums Eierschälen. Wobei, wenn man es genau nimmt, sie nicht direkt ein Tiktok geteilt hat. Nein, sie hat es wie eine Erwachsene gemacht: das Tiktok als Video im Instagram-Feed gefunden und mir als unsäglich langen, komisch formatierten Link via Whatsapp geschickt. Ohne das Digitalverhalten anderer weiter zu beurteilen, will ich zu folgendem Punkt kommen: Sie und ich haben was gelernt. Mit Tiktok. Tiktok und Lernen waren sich schon mal näher. 2020 hatte Tiktok einen eigenen Feed für Lerninhalte, neben „Following“ und „For you“. Bis dann überraschend der „Learn“-Feed aus der App verschwand. Gemunkelt wurde laut, Tiktok wende sich vom lobenswerten Motiv Bildung ab, der chinesische Konzern Byte-Dance spiele in den USA gezielt Content aus, um die junge Nutzerschaft zu verdummen… Dass dieses offensichtliche Verschwinden des „Learn“-Feeds ein Indiz für eine globalpolitische Verschwörung sein soll, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem stellt sich die Frage, warum der „Learn“-Feed verschwunden ist. Das klammheimliche Migrieren der Lerninhalte in den „For you“-Feed war eine kluge, logische Entscheidung und zeigt, dass Tiktok Datenempathie verstanden hat. Im ersten Schritt hält Tiktok Lerninhalte isoliert zum Kennenlernen und Datensammeln bereit. So konnte die Nutzung der Lerninhalte analysiert werden. Der zweite Schritt war für Tiktok die Migration von Lerninhalten in den alltäglichen Content. Ziehen wir dazu Parallelen zum Corporate Learning, sehen wir, dass zwar viel Aufwand in die Optimierung des Learning & Development-Apparats gesteckt wird, den zweiten Schritt suchen wir allerdings vergebens. L&D bleibt ein externes System, betreut von Menschen, die häufig nicht mal im Unternehmen ansässig sind. Zu selten wird versucht, L&D in den Alltag der Mitarbeitenden zu integrieren und als omnipräsente Facette des Lebens anzubieten. Wir haben zu wenig Empathie. Es unterstreicht außerdem, was wir schon längst wissen und durch Daten belegen können: Stundenlange Vorträge sind nicht so effektiv wie kleine eingestreute Lernepisoden. Stichwort Microlearning. User waren nur begrenzte Zeit auf dem „Learn“-Feed unterwegs, bevor das Gehirn nach Abwechslung schrie. Eine Migration des Learning-Contents in den „For you“-Feed hat das Engagement deutlich gesteigert. Besonders wenn man für junge Generationen attraktiv wirken möchte, sollte Lernen mehr als „snackable“ Content gedacht werden. Snacks lassen sich gut in den Alltag eingliedern, sind gut bekömmlich und machen Lust auf mehr. Im Grunde ist der Mensch ja ein Wesen, das lernen will. Es scheitert weniger an der Lernbereitschaft als am Format. Lasst uns von Tiktok und dem Verschwinden des „Learn“-Feed lernen und in Zukunft versuchen, Lernen möglichst nah am User und seinem Alltag stattfinden zu lassen. Sätze wie „E-Learning im Stil von Tiktok“ können abschreckend wirken, vermutlich auch für meine Mutter. Also, Mama, falls du das hier liest: Trau dich ruhig auf Tiktok, da gibt’s noch so viel mehr zu lernen. Für dich, für mich und die gesamte Welt des Corporate Learning. DORIAN RICHTER ist Experience Strategist bei der renommierten Agentur Thjnk und Experte für digitale Interaktionen. Er beleuchtet kreativ und datenbasiert die Nutzererwartung und -wahrnehmung sowie das Nutzerverhalten für eine harmonischere Beziehung zwischen Maschine und Mensch. Die App »Tiktok« kann ein Vorbild imCorporate Learning sein: Sie zeigt, dass kleine Lerneinheiten, die in den täglich konsumierten Content einfließen, ambesten funktionieren. Herausgefunden haben das die Entwickler und Entwicklerinnenmit einer Datenanalyse in zwei Schritten. Text: Dorian Richter Illustration: Tina Berning 73
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