veröffentlicht. Darin hat er drei Modelle von Neuroleadership untersucht und kritisch analysiert: das SCARF-Modell von Rock, das AKTIV-Modell des Betriebswirtschaftsprofessors Theo Peters und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Argand Ghadiri sowie die sieben Grundregeln des Neuroleadership des Neurologen und Epileptologen Professor Christian Elger: Letztlich wurden nur bekannte Erkenntnisse aus etablierten Führungstheorien angewandt. Der Anspruch der Verfechter des Neuroleadership, einen wirklich neuen und anderen Führungsansatz zu beschreiben, kann daher nicht aufrechterhalten werden, lautete das Resümee im Buch. Es zeige sich, dass für die Konzepte nur bereits bekannte Erkenntnisse aus anderen Führungstheorien in eine neurowissenschaftliche Perspektive übersetzt wurden. „Viele halten das für glaubwürdiger, aber das ist nur die Etikettierung“, sagt Schiefer. Neurowissenschaftliche Erklärungen und Bilder des Gehirns könnten dazu führen, dass bestimmte Phänomene von der Öffentlichkeit eher als real, objektiv und effektiv wahrgenommen werden. Neuro-Realismus lautet das Phänomen, das auch in einigen Studien bestätigt wurde. „Hirnforschung ist ein Megathema, und die Neurowissenschaft entwickelt sich enorm, aber nicht in Kombination mit dem Führungsthema“, sagt der Psychologe im Gespräch. Bunte Bilder als Verkaufsargument Rüdiger Reinhardt sieht das Problem vor allem beim Transfer. Es gebe jede Menge Grundlagenforschung und Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft. „Aber was bedeutet das für eine Führungskraft in der Handlungspraxis?“, fragt der Psychologe. „Was nützt es einer Führungskraft, wenn sie weiß, dass die Amygdala bei Bedrohungen aktiviert wird? – Nichts!“ Ohne zu verstehen, welche emotionalen, psychischen und sozialen Prozesse bestimmte neuronale Netzwerke beziehungsweise Gehirnregionen aktivierten, bleibe die neurobiologische Sicht inhaltslos. „Neuro-XY“ für die Praxis benötige andere Disziplinen, insbesondere die Psychologie, um umgesetzt werden zu können. „Bunte Bilder“ von fMRT-Scans machten zwar neugierig und aktivierten das eigene Belohnungssystem, doch der lange und steinige Pfad zur Umsetzung bleibe bestehen. Auf Manager wirkten diese bunten Bildchen überzeugend. „Da kann ich zeigen, das ist blau oder rot. Das hat oft genug den Charakter der Peinlichkeit“, fasst Reinhardt zusammen. Die meisten wüssten auch nicht, dass ein fMRT überhaupt nicht bunt ist, sondern später dann eingefärbt wird. Dazu kommt die geringe Stichprobengröße, weil Untersuchungen mit dem fMRT sehr teuer sind. Auch die Zuverlässigkeit der fMRT-Bilder sei zweifelhaft. So haben drei Neurowissenschaftler in einer Metaanalyse von 2016 herausgefunden, dass bis zu 70 Prozent aller fMRT-Studien falsch positiv sind, also etwas anzeigen, was nicht da ist. „Wenn ein Manager oder Berater ohne Fachausbildung Studien zur Hirnforschung liest, kann er das überhaupt nicht beurteilen“, so Reinhardt. „Wenn ich das dann in der Praxis nutze, finde ich das unseriös.“ Das gilt auch für die verhaltensorientierte Ökonomie, die Neuroökonomie. „Die Neuroökonomie ist noch im Stadium der Grundlagenforschung und zeigt daher Text: Bärbel Schwertfeger Foto Seite 59: Sarah Illenberger die mit den vier Neurotransmittern assoziiert sind. Wer über ein aktives Dopaminsystem verfügt, hat demnach eine „Dopamin-Neurosignatur“ und soll sich durch Neugier, Tatkraft und Zukunftsorientierung auszeichnen. Wer eine SerotoninNeurosignatur hat, ist zuverlässig, detailversessen und loyal. Menschen mit einer Testosteron-Neurosignatur sind analytisch, machtbewusst, nüchtern und verstandesorientiert. Und Menschen mit einer Östrogen-Neurosignatur haben Empathie und können persönliche Beziehungen und Gemeinschaften aufbauen. Dabei beruft sie sich auf die Anthropologin Helen Fisher. Mit dem von ihr entwickelten Test „Neuro Color“ kann man die eigene Neurosignatur feststellen. Die vier Neurosignaturen erinnern an Typentests wie den MBTI (Myers-Briggs-Typenindikator). Typentests gelten als veraltete Ansätze, die aus wissenschaftlicher Sicht erwiesenermaßen fraglich sind. Menschen lassen sich nun mal nicht auf wenige Typen reduzieren. Wohl nicht zufällig distanziert sich Fabritius, die im Advisory Board von „Neuro Color“ sitzt und „Certified Neuro Color Consultant“ ist, in ihrem Buch von dem fragwürdigen Persönlichkeitstest. Schließlich sei „Neuro Color“ als einziger Persönlichkeitstest neurowissenschaftlich validiert. Neuroleadership: Seit 2006 bekannt Die Neurosignatur ist das neueste Konstrukt auf dem schillernden Markt des Neuroleaderships. Das Neuroleadership selbst nahm seinen Anfang 2006 mit David Rock und seinem SCARF-Modell (Status, Certainty, Autonomy, Relatedness und Fairness). Es stellt die Handlungsfelder dar, mit denen Führungskräfte Belohnungen und Bedrohungen für Mitarbeitende steuern und sie effektiv führen können. Mit Certainty, also Sicherheit, beschreibt Rock zum Beispiel das Bedürfnis des Gehirns nach Routine und der Fähigkeit, Vorhersagen zu treffen. Unsicherheiten am Arbeitsplatz werden daher von den Mitarbeitenden als Bedrohung empfunden und Aufgabe einer Führungskraft ist daher, sie möglichst zu reduzieren. „Rock war ein Coach und hatte eine richtig coole Idee“, erklärt Professor Rüdiger Reinhardt, der sich 2012 intensiver mit Neuroleadership beschäftigt hat. Er habe sich gedacht, wenn es sozial relevante Reize gebe, die man neurowissenschaftlich abbilden könne mit fMRT-Studien, könne man das für Coachingprozesse nutzen (die funktionelle Magnetresonanztomografie, abgekürzt fMRT, ist ein bildgebendes Verfahren, um physiologische Funktionen im Gehirn mit den Methoden der Magnetresonanztomografie darzustellen). Rock habe in verschiedenen Studien ein paar Muster gefunden und daraus seine fünf Faktoren entwickelt. Empirische Studien, die sein Konzept stützen, habe er auf der Homepage von Rock nicht gefunden. Dann hat er mit Neuroleadership sein eigenes Geschäftsfeld aufgebaut“, sagt der Wirtschaftspsychologieprofessor an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen-Geislingen. Gernot Schiefer, Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management in Mannheim, hat 2019 zusammen mit Ramona Gattner das Buch „Neuroleadership – die Grundannahmen in kritischer Analyse. Was Neurowissenschaften zur Zukunft von Führungstheorien wirklich beitragen“ 60 neues lernen – 03/2023
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==