62 SERVICE_DIE FAKTEN HINTER DER SCHLAGZEILE PERSONALquarterly 01 / 24 Bedeutet mehr Pendeln mehr Stress? In den Medien ist zu lesen, zur Arbeit zu pendeln, könne für mehr Stress sorgen. Ob und wann Pendeln tatsächlich stresst, überprüft PERSONALquarterly. Dr. Christina Guthier, Wirtschaftspsychologin in Düsseldorf Während der Zeit der Coronapandemie blieben viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Homeoffice. Nun wird in Deutschland wieder mehr zum Arbeitsplatz gependelt. Laut Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung pendelten zum Stichtag am 30. Juni 2022 mehr als 20 Millionen Deutsche zur Arbeit. Gleichzeitig stieg die Länge des durchschnittlichen Arbeitswegs. Besonders viel wird nach München gependelt. Es liegen keine Daten vor, wie häufig der Arbeitsweg pro Woche tatsächlich zurückgelegt wird oder mithilfe welcher Verkehrsmittel. Für Unternehmen stellt sich die Frage, wie sich das Pendeln auf ihre Beschäftigten auswirkt. Bedeutet mehr Pendeln automatisch mehr Stress? Medien diskutieren, wie stressig das Pendeln ist Die Frankfurter Allgemeine titelt am 17.10.2023: „So gelingt das tägliche Pendeln ohne Stress.“1 Der Beitrag erklärt, dass der Trend der letzten Jahrzehnte hin zu Doppelverdienerpaaren Pendelarrangements begünstige und zwei Drittel aller Pendler in Deutschland das Auto nutzten. Steffen Häfner, Psychologe und Ärztlicher Direktor der Klinik am schönen Moos in Bad Saulgau in Baden-Württemberg, gibt Entwarnung, was die Psyche betrifft: Wenn die berufliche und private Situation in Ordnung sei, dann stelle Pendeln keinen großen Belastungsfaktor dar. Er ermutigt dennoch, die Pendelzeit intelligent zu nutzen, um die Zeit nicht als „verloren“ zu empfinden. Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 12.10.2023 nüchtern, „Warum in Deutschland immer mehr Menschen pendeln.“2 Die steigende Attraktivität von Klein- und Mittelstädten als Wohnorte wird herausgestellt. Bezüge zu möglicherweise gestiegenem Stress werden nicht gezogen. Das Handelsblatt überschreibt einen Expertenrat-Beitrag von Prof. Dr. Curt Diehm, dem ärztlichen Direktor der auf Führungskräfte spezialisierten Max-Grundig-Klinik, wiederum am 06.10.2023: „Stress, Bluthochdruck, Schlafmangel: Wie ungesund ist Pendeln wirklich?“3 Ein Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse kommt zu dem Fazit: Pendeln macht nicht kränker, aber es erzeugt mehr Stress.4 Außerdem gehe mit Pendeln häufig weniger Schlaf, Probleme mit Allergien und Infektionen bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, ungesündere Ernährung sowie längere Zeiten in sitzender Haltung einher. Prof. Diehm empfiehlt, den eigenen Pendelweg möglichst aktiv (z. B. mit dem Fahrrad) zu gestalten. Sorgt Pendeln also tatsächlich automatisch für mehr Stress für die betroffenen Beschäftigten oder nicht? Der Forschungskontext I nternationale Forschungsergebnisse über Pendeln und Stress sind überwiegend unter den Begriffen commuting, way to work, commute, active commuting, passive commuting sowie strain, stress und wellbeing zu finden. Z entrale Fragestellungen sind bislang bspw.: • Welche Pendelereignisse – also z. B. schlechtes Wetter, Staus oder andere Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer – wirken sich auf das Stresserleben aus? • Wirken sich aktives Pendeln (z. B. zu Fuß oder auf dem Fahrrad) anders aufs Stresserleben aus als passives Pendeln (z. B. mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln)? Die Forschungslage Z um Thema Pendeln und Stress liegen bisher vor allem Querschnittsstudien vor. In diesen wurden überwiegend Fragebogendesigns genutzt, um Zusammenhänge zwischen der Pendelstrecke bzw. der Pendeldauer und schlechter Gesundheit, insbesondere psychischen und körperlichen Beschwerden sowie Stresserleben, zu untersuchen. Im Jahr 2022 wurde von Murphy, Cobb, Rudolph und Zacher ein systematisches Review samt Metaanalyse, also eine Übersichtsstudie, zu „Commuting demands and appraisals: A systematic review and meta-analysis of strain and wellbeing outcomes“5 in Organizational Psychology Review veröffentlicht. • Ziel der Studie war es, einen Überblick über positive und negative Auswirkungen des Pendelns zu liefern. • Die Ergebnisse basieren auf 109 Studien für das Review und 39 Studien, die für die statistische Auswertung für die Metaanalyse verwendet werden konnten.
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