Personal quarterly 4/2023

44 PERSONALquarterly 04 / 23 NEUE FORSCHUNG_CANDIDATE EXPERIENCE MANAGEMENT rem Umfang und ihrer Systematik noch nicht intensiv genug erfolgen, um von einem bewussten CXM zu sprechen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit CXM bietet für familiengeführte KMU folglich eine noch ungenutzte Chance, um ihre Arbeitgebermarke strategisch am Arbeitsmarkt zu platzieren und im Kampf um die besten Talente gegen Wettbewerber wie andere KMU, aber auch Großunternehmen und Konzerne zu bestehen. So gilt es nicht nur die bereits bewussten Berührungspunkte in der Candidate Journey weiter zu optimieren, sondern auch bisher vernachlässigte Themen systematisch anzugehen und für Bewerber erlebbar zu machen. Eine wesentliche Chance im Wettbewerb um die besten Talente liegt für familiengeführte KMU darin, eine individuelle, persönliche Beziehung zu den Bewerbern aufzubauen. Dies geschieht häufig schon am Anfang des Bewerbungsprozesses, indem z. B. Mitglieder der Geschäftsführung den Kontakt zu den Bewerbern aufnehmen, als Ansprechpartner kommuniziert werden und häufig das Auswahlverfahren leiten. Hiermit wird Wertschätzung und ein direktes Erleben der Kultur des Familienunternehmens vermittelt. Selbst in Fällen, in denen die Geschäftsführung nicht direkt beteiligt ist, wird versucht, diese zumindest kurzzeitig zu involvieren. Führungen durch den Betrieb durch Geschäftsführung oder Eigentümer sind in großen Betrieben wohl nur selten möglich und stellen folglich ein Alleinstellungsmerkmal von familiengeführten KMU dar. Ebenso brillieren familiengeführte KMU durch hohe Geschwindigkeit und Flexibilität in den Bewerbungsprozessen (z. B. Eingehen auf Terminwünsche der Bewerber) sowie in der individuellen Ausgestaltung der Verträge (Teilzeitmodelle und Urlaubsregelungen), was zum Vorteil im Wettbewerb mit großen Konzernen reifen kann. Insbesondere die Anpassung der Verträge ohne lange Genehmigungsprozesse ist hervorzuheben. „Konzerne sind ja oft an starre Vorgehensweisen gebunden [...], das haben wir in Familienunternehmen nicht. [...] Ich kann den Prozess einfach abwickeln innerhalb von zwei Tagen. Das kann ein Konzern gar nicht abbilden“ (IP9). Als bedeutendes Element in Auswahlverfahren wurde das Probearbeiten hervorgehoben. Während dieses den Kandidaten auf vielen Ebenen eine erhöhte Transparenz bietet (z. B. zu Aufgabe, Team, Führungskräften und Betriebsklima), dürfte es sich um ein für größere Unternehmen in der Breite schwer umsetzbares Format handeln. Aufgrund seiner Bedeutung im CXM-Prozess von familiengeführten KMU sollte das Format keinesfalls ungeplant eingesetzt werden. So sind einerseits Überlegungen zur zeitlichen Dauer und dem organisatorischen Ablauf anzustellen und andererseits die einbezogenen Mitarbeiter nach deren fachlicher und persönlicher Eignung sowie Loyalität zum Unternehmen auszuwählen. Andererseits muss das Probearbeiten einen realistischen, authentischen Einblick in den Arbeitsalltag geben, um sowohl den Bewerbern als auch dem Unternehmen eine valide Beurteilung der Passung zueinander zu ermöglichen. Schlussendlich wirkt das Probearbeiten vertrauensbildend und kann die Candidate Experience positiv beeinflussen – eine spätere größere Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Wahrnehmung im Bewerbungsprozess und der Realität des Arbeitsalltags kann jedoch zu Vertrauensbruch und raschem Verlust des erst gewonnenen Arbeitnehmers führen. Um im Wettbewerb um Fachkräfte bestehen zu können, sollten familiengeführte KMU systematisch entlang der Candidate Journey diejenigen Attribute ausspielen, bei denen sie Vorteile gegenüber größeren Unternehmen besitzen. Zugleich dürfen die anderen Bereiche nicht zurückfallen. Schließlich werden Großunternehmen zukünftig ihrerseits versuchen, eine persönliche Ansprache ihrer Kandidaten zu intensivieren. Über diese praxisnahen Erkenntnisse hinaus wirft die Studie einen relevanten Aspekt für die CXM-Forschung auf: Gerade in familiengeführten KMU verschwimmen die Grenzen zwischen den Schritten Anziehung und Information, Information und Bewerbung, aber vor allem zwischen Anziehung und Auswahl. Mit der Wende hin zum Arbeitnehmermarkt haben die Bewerber jederzeit die Möglichkeit, aus dem Prozess auszusteigen und andere Optionen zu wählen, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. Eine spätere erneute Bewerbung oder sogar eine aktive Ansprache durch das zunächst abgelehnte Unternehmen sind denkbar und finden statt. Insofern muss die Candidate Journey zukünftig vermehrt als iterativer Prozess verstanden werden. Dies gilt nicht nur für kleine und mittlere Familienunternehmen. Impulse für die KMU-Praxis  Analysieren Sie jeden Berührungspunkt entlang der Candidate Journey systematisch und bearbeiten Sie bisherige blinde Flecken.  Versetzen Sie sich in die Rolle Ihrer Bewerberinnen und Bewerber.  Lassen Sie die Bewerberinnen und Bewerber Ihr Unternehmen authentisch erleben und nutzen Sie hierzu bspw. das Instrument des Probearbeitens.  Nutzen Sie die Flexibilität Ihrer Firma, um schnell zu handeln und gute Kandidatinnen und Kandidaten zu binden.  Setzen Sie das Führungsteam gezielt ein, um einen familiären Eindruck zu hinterlassen. Zusammenfassung Das Candidate Experience Management im Sinne einer systematischen Analyse der Candidate Journey und der zugehörigen Berührungspunkte zwischen Unternehmen und Bewerbern rückt in den Personalabteilungen großer Unternehmen zunehmend in den Fokus. Forschung zu diesem Ansatz vernachlässigte bisher den Kontext von KMU. Interviews mit Eigentümern und Geschäftsführern unterstreichen aufgrund

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