40 PERSONALquarterly 04 / 23 NEUE FORSCHUNG_CANDIDATE EXPERIENCE MANAGEMENT Laut der aktuellen ifo-Konjunkturumfrage erleben 49,7 % der Industrieunternehmen einen akuten Fachkräftemangel; bei Dienstleistungsunternehmen beträgt dieser Wert sogar 54,2 % (ifo-Institut, 2022). In Anbetracht dessen sind wir mittendrin im „War for Talent“, dem Kampf um Fachkräfte. Die Auswirkungen sind für Firmen aller Branchen und Größen spürbar1, wobei KMU besonders stark vom Fachkräftemangel betroffen sind (Statista, 2022b). Die Positionierung als attraktiver Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt erzeugt in dieser Marktlage insofern einen strategischen Wettbewerbsvorteil, als sie die Gewinnung von begrenzt verfügbaren Fachkräften unterstützt. Das Candidate Experience Management (CXM) unterstützt die Wahrnehmung als attraktiver Arbeitgeber und fokussiert auf alle Erfahrungen, die Bewerberinnen und Bewerber im Laufe des Bewerbungsprozesses bei einem Arbeitgeber machen. Konkret soll dieser aus Kandidatensicht systematisch analysiert und derart gestaltet werden, dass Bewerber positive Eindrücke vom Arbeitgeber sammeln. Dies soll u. a. die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass Bewerber ein Arbeitsangebot des Unternehmens annehmen.2 Gerade familiengeführte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) weisen sowohl potenzielle Stärken (z. B. familiäre Unternehmenskultur, Nähe zum Topmanagement) als auch potenzielle Herausforderungen (z. B. generalistisch aufgestelltes Personalmanagement mit knapper Ressourcenausstattung) auf, die die Gestaltung eines überzeugenden Bewerbererlebnisses fördern bzw. erschweren. Die Berücksichtigung dieser Charakteristika ist essenziell, um familiengeführte KMU in ihrer Positionierung am Arbeitsmarkt mittels CXM zu unterstützen. Es überrascht daher, dass, obwohl KMU besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind, bis heute keine empirische Untersuchung des CXM in familiengeführten KMU existiert. Bisher wurde dem Thema nur in wenigen, konzeptionellen Veröffentlichungen Aufmerksamkeit zuteil (Festing et al., 2017; Verhoeven, 2016a und für einen Mittelstandsfokus insb. Verhoeven, 2016b; Ullah/Ullah, 2015). An dieser praxisrelevanten Forschungslücke setzt die vorliegende Studie an. Mithilfe von Experteninterviews wird das CXM in familiengeführten KMU näher beleuchtet und aufgezeigt, wie KMU ihre spezifischen Attribute als Stärke nutzen können und Candidate Experience Management als bekannte Unbekannte in familiengeführten KMU Von Prof. Dr. Thomas Schäfer (IU Internationale Hochschule), Dr. Björn Schäfer (Freie Universität Bozen) und Prof. Dr. Paul Goldmann (Westsächsische Hochschule Zwickau) welche Herausforderungen auftreten. Die Ergebnisse liefern Erkenntnisse zum Einsatz von CXM in familiengeführten KMU sowie zu deren Stärken und Defiziten in der Ausgestaltung einer positiven Candidate Journey. Hieraus resultieren Vorschläge zur Umsetzung des CXM in KMU sowie eine Aufforderung, das CXM stärker wissenschaftlich und iterativ zu verstehen. Candidate Experience Management – eine Kurzvorstellung des Konzepts Während sich Ausdrücke wie Candidate Experience, Candidate Journey und Candidate Experience Management in Blogs, auf Linkedin und in Personalabteilungen großer Unternehmen etabliert haben, findet das Phänomen in der wissenschaftlichen Literatur weniger Beachtung.3 Dabei kann das Candidate Experience Management durchaus als theoretisch fundiertes Konstrukt verstanden werden: Es wurde dem Customer Experience Management entlehnt, analysiert systematisch die Candidate Journey,4 also die Wahrnehmung des Bewerbungsprozesses aus Bewerbersicht, und fokussiert dabei die Berührungspunkte („Touchpoints“) zwischen Bewerbern und Unternehmen (Verhoeven, 2016c). Verhoeven (2016d, S. 36–37) untergliedert die Journey dabei in sechs Schritte: Anziehung, Information, Bewerbung, Auswahl, Onboarding und Bindung.5 1 Bspw. werden Vakanzen im Schnitt nach vier Monaten besetzt; in besonders vom Fachkräftemangel betroffenen Zweigen des Arbeitsmarkts dauert dies über acht Monate. Zu diesen Zweigen gehören die Industrie und das Handwerk (Statista, 2022a), was in Verbindung mit der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung die Auswahl für die hier vorliegende Studie begründet. 2 Hier offenbart sich der Zusammenhang zwischen Candidate Experience und Employer Brand. Für die Einordnung in und die Relevanz der Candidate Experience für die Employer Brand sei an dieser Stelle exemplarisch auf Ullah/Ullah (2015, S. 10–11) verwiesen. 3 Web of Science und Scopus weisen für die BWL vier Treffer aus, Google Scholar identifiziert darüber hinaus Buchkapitel und Sammelbandbeiträge, insb. in: Verhoeven, T. (2016a). 4 Athanas und Wald (2014) beschreiben die Candidate Journey anschaulich als den „Weg eines Kandidaten vom interessierten Jobsucher zum neuen Mitarbeiter“ (S. 15). 5 Die Analyse von Berührungspunkten im Bewerbungsprozess ist nicht neu. Barbedette identifizierte bereits 2005 fünf relevante Schritte zur Verbesserung der Candidate Experience: (1) Stellenanzeigen klar und präzise formulieren sowie diese leicht auffindbar machen, (2) schnell und effizient antworten, (3) einen „Talent-Pool” aufbauen, (4) das Management in den Prozess mit einbeziehen und (5) eine „exzellente Eins-zu-eins-Beziehung aufbauen” (Barbedette, 2005, S. 5). 6 Dem Leitfadeninterview als qualitative Erhebungsmethode liegt ein Leitfaden mit offen formulierten Fragen zugrunde. Der Leitfaden dient als Strukturierungshilfe während des Gesprächs und stellt sicher, dass forschungsrelevante Aspekte und Themenkomplexe nicht vergessen werden. Außerdem erhöht der Interviewleitfaden die Vergleichbarkeit und Strukturierbarkeit der gewonnenen Daten. Jedoch muss die Reihenfolge der Fragen keinesfalls eingehalten werden oder der Interviewer starr am Leitfaden festhalten. Vielmehr wird eine offene Herangehensweise und eine „flexible, unbürokratische Handhabung des Leitfadens im Sinne eines Themenkomplexes und nicht im Sinne eines standardisierten Ablaufschemas“ (Meuser/Nagel, 2013, S. 465) als erfolgsrelevant betrachtet. 7 Für eine Thematisierung des Expertenbegriffs sei exemplarisch auf Gläser/Laudel (2010, S. 11–13) verwiesen. Allgemein soll an dieser Stelle auch Praktikern das komplette Buch „Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse“ der beiden Autoren zur Erhebungsmethode der Studie sowie dem Vorgehen bei der Datengewinnung und -auswertung empfohlen werden. 8 Ein Standardwerk zum Auswertungsverfahren der qualitativen Inhaltsanalyse ist „Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken“ von Mayring (2015).
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