PersonalQuarterly 2/2022

MATERIAL-NR. 04000 -5064 Wie Unternehmen und Mitarbeitende den Wandel gestalten quarterly PERSONAL 02 2022 | 74. Jahrgang | www.personalquarterly.de Wissenschaftsjournal für die Personalpraxis State of the Art: Resilienzförderung am Arbeitsplatz – Was bringen Trainingsprogramme? S. 62 APREA/LOHNER Disruptive Zeiten – wie kann die Transformation gelingen? S. 6 INTERVIEW MIT PROF. DR. ENZO WEBER Personalarbeit als Erfolgsfaktor der Nachhaltigkeitstransformation S. 26 BÖGEL/HELLDORF/ERDINGER-SCHONS Die große Disruption? Zur Transformation der deutschen Automobilindustrie S. 9 INTERVIEW MIT GUNNAR KILIAN, DR. ARIANE REINHART UND PROF. DR. THOMAS VIETOR Resilienz und Führung im Homeoffice: zwischen Produktivität und Wohlbefinden S. 54 FÜRSTENBERG/BRUCH Wie Mitarbeitende Veränderungsprozesse in Unternehmen gestalten können S. 18 KAUFFELD/BERG

3 EDITORIAL 02 / 22 PERSONALquarterly Liebe Leserinnen und Leser, neue digitale Technologien beeinflussen Produktionsstrukturen, Geschäftsprozesse und Wertschöpfungsketten genauso wie die Arbeit von Beschäftigten in allen Branchen. Neben der Digitalisierung, sind Ökologisierung und Dekarbonisierung zu Schlagworten geworden. Der demografische Wandel bringt Herausforderungen mit sich, denen sich die Unternehmen stellen müssen – und zwar nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), sondern auch große Unternehmen, wie im Interview mit den Vorständen von Continental, Volkswagen und dem Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik für die Automobilbranche deutlich wird. Unternehmen sind darauf angewiesen, in kürzester Zeit neue, innovative Geschäftsfelder zu erschließen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Es gilt, Prozesse durch digitale Technologien neu zu entwickeln und dies geht nicht, ohne Kompetenzen bei den Mitarbeitenden aufzubauen. Bei der Qualifizierung von „Veränderungsmachern und -macherinnen“ wird die Kompetenz(-entwicklung) von Mitarbeitenden genutzt, um gezielt Organisationsentwicklung zu betreiben. Auch neue Technologie – hier das Beispiel Virtual Reality – kann dabei unterstützen, Mitarbeitende in die Neugestaltung von Geschäftsprozessen einzubinden. Nicht zuletzt bleibt zu berücksichtigen, dass Unternehmen nicht nur ihre eigene Entwicklung im Sinne einer organisationalen Transformation bewältigen müssen, sondern auch eine Rolle im systemischen Kontext spielen, um ihren Beitrag u. a. zur Nachhaltigkeitstransformation leisten zu können. Finden Sie Anregungen in diesem Heft, wie Personalverantwortliche die Transformation gestalten können, indem Personal- und Organisationsentwicklung miteinander verbunden werden. Simone Kauffeld, Herausgeberin PERSONALquarterly

4 IMPRESSUM PERSONALquarterly 02 / 22 IMPRESSUM Redaktion/Schriftleitung: Prof. Dr. Rüdiger Kabst (Universität Paderborn), Telefon: 05251 602804, E-Mail: redaktion@personalquarterly.de Redaktion/Objektleitung: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Reiner Straub, Munzinger Straße 9, 79111 Freiburg, Telefon: 0761 898-3113, E-Mail: Reiner.Straub@haufe-lexware.com Redaktion/CvD (Chefin vom Dienst): Anja Bek, Telefon: 0761 898-3537, E-Mail: Anja.Bek@haufe-lexware.com. Redaktionsassistenz: Brigitte Pelka, Telefon: 0761 898-3921, E-Mail: Brigitte.Pelka@haufe-lexware.com Disclaimer: Mit Namen gezeichnete Artikel spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Texteinreichung: Alle Manuskripte sind an die obige Adresse der Redaktion, bevorzugt die Schriftleitung (redaktion@personalquarterly.de), zu schicken. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Beiträge werden nur nach Begutachtung im Herausgeberbeirat veröffentlicht. Näheres regelt ein Autorenmerkblatt: Dies können Sie anfordern unter: redaktion@personalquarterly.de; zum Download unter www.haufe.de/pq. Verlag: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Ein Unternehmen der Haufe Group, Munzinger Straße 9, 79111 Freiburg, Telefon: 0761 898-0, Fax: 0761 898-3990, Kommanditgesellschaft, Sitz Freiburg, Registergericht Freiburg, HRA 4408 Komplementäre: Haufe-Lexware Verwaltungs GmbH, Sitz Freiburg, Registergericht Freiburg, HRB 5557; Martin Laqua Geschäftsführung: Isabel Blank, Iris Bode, Jörg Frey, Matthias Schätzle, Christian Steiger, Dr. Carsten Thies, Björn Waide Beiratsvorsitzende: Andrea Haufe; Steuernummer: 06392/11008 UmsatzsteuerIdentifikationsnummer: DE812398835. Leserservice: Haufe Service Center GmbH, Munzinger Straße 9, 79111 Freiburg, Telefon: 0800 72 34 253 (kostenlos), Fax: 0800 50 50 446 (kostenlos), E-Mail: Zeitschriften@haufe.de Anzeigen/Media Sales: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Niederlassung Würzburg, Unternehmensbereich Media Sales, Im Kreuz 9, 97076 Würzburg; Dominik Castillo (verantwortlich), Telefon: 0931 2791-751, E-Mail: Dominik.Castillo@haufe-lexware.com; Thomas Horejsi, Telefon: 0931 2791-451, E-Mail: Thomas.Horejsi@haufe-lexware. com; Bernd Junker, Telefon: 0931 2791-477, E-Mail: Bernd.Junker@haufe-lexware.com Anzeigendisposition: Yvonne Göbel, Telefon: 0931 2791-470, Yvonne.Goebel@haufe-lexware.com Erscheinungsweise: vierteljährlich Internetpräsenz: www.personalquarterly.de Abonnementpreis: Jahresabonnement PERSONALquarterly (4 Ausgaben) 112 Euro inkl. MwSt., Porto- und Versandkosten. Bestell-Nummer: A04123 Copyright: Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Publikation darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages bzw. der Redaktion nicht vervielfältigt oder verbreitet werden. Unter dieses Verbot fällt auch die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie sowie die Aufnahme in elektronische Medien (Datenbanken, CD-ROM, Disketten, Internet usw.) Layout: Maria Nefzger, Ruth Großer Titelbild: smartboy10/gettyimages.de Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, ISSN 2193-0589 MANAGING EDITORS Prof. Dr. Rüdiger Kabst, Paderborn Prof. Dr. Simone Kauffeld, Braunschweig Prof. Dr. Torsten Biemann, Mannheim Prof. Dr. Heiko Weckmüller, Koblenz EHRENHERAUSGEBER Prof. em. Dr. Dieter Wagner, Potsdam Gegründet im Jahr 1949

5 INHALT 02 / 22 PERSONALquarterly SCHWERPUNKT 6 Disruptive Zeiten – wie kann die Transformation gelingen? Interview mit Prof. Dr. Enzo Weber 9 Die große Disruption? Zur Transformation der deutschen Automobilindustrie Interview mit Gunnar Kilian, Dr. Ariane Reinhart und Prof. Dr.-Ing. Thomas Vietor 18 Wie Mitarbeitende Veränderungsprozesse in Unternehmen gestalten können Prof. Dr. Simone Kauffeld und Ann-Kathleen Berg 26 Personalarbeit als Erfolgsfaktor der Nachhaltigkeitstransformation Dr. Paula Maria Bögel, Dr. Sünje Helldorf, Prof. Dr. Laura Marie Erdinger-Schons 34 Virtual Reality bei der digitalen Neugestaltung von Geschäftsprozessen Prof. Dr. Karsten Müller, Dr. Tammo Straatmann, Jan-Philip Schumacher und Sarah Depenbusch 40 Dezentrale Transformation durch agile Führung Prof. Dr. Roman Stoi und Matthias Patz NEUE FORSCHUNG 48 Steigern Migranten die Produktivität von Teams? Eine Studie in Arbeiterteams Anna Apostolidou und Prof. Dr. Florian Kunze 54 Resilienz und Führung im Homeoffice: zwischen Produktivität und Wohlbefinden Ass. Prof. Dr. Nils Fürstenberg und Prof. Dr. Heike Bruch STATE OF THE ART 62 Resilienzförderung am Arbeitsplatz: Was bringen Trainingsprogramme? Prof. Dr. Carmela Aprea und Max Simon Lohner ESSENTIALS 66 Rezensionen: Richtungsweisendes aus internationalen Top-Journals Dr. Benjamin P. Krebs, Johannes Brunzel, Maie Stein SERVICE 70 Die Fakten hinter der Schlagzeile: Multitasking in virtuellen Meetings 72 Forscher im Porträt: Prof. Dr. Fabiola H. Gerpott 74 Den PERSONALquarterly-Fragebogen beantwortet Lasse Rheingans, Rheingans GmbH

6 SCHWERPUNKT_INTERVIEW PERSONALquarterly 02 / 22 PERSONALquarterly: Die Zeiten sind disruptiv. Viele sprechen von einer Transformation, die der der industriellen Revolution in Ausmaß und Bedeutung in nichts nachsteht. Welchen Blick haben Sie auf die Veränderungen? Welche transformationalen Herausforderungen sehen Sie in den kommenden Jahren? Enzo Weber: Heute sind drei große Trends in vollem Gange. Zuerst einmal ist das die Digitalisierung. Dabei geht es nicht mehr nur um Computer oder Internet, sondern um intelligente Vernetzung. Das bezeichnet „4.0“, also die vierte industrielle Revolution nach der Dampfkraft, der Massenfertigung und der Elektronik/IT. Genauso allumfassend ist der Trend der Ökologisierung und Dekarbonisierung geworden. Und drittens führt uns die Demografie in das Neuland einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft. Das alles verändert zeitgleich die Bedingungen und Technologien, mit denen eine Wirtschaft arbeiten muss. Dazu gehören ökologische Vorgaben, künstliche Intelligenz und der Aderlass bei den Arbeitskräften, da die in die Rente ausscheidenden Kohorten immer größer und die nachwachsenden Kohorten immer kleiner werden. PERSONALquarterly: Die Coronapandemie wird als Beschleuniger von vielen Trends angesehen. Wo stehen wir nun nach zwei Jahren? Enzo Weber: Corona ist eine transformative Rezession. Übrigens im Gegensatz zur der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2009, damals hatten wir es mit einem gravierenden Einbruch der Exportnachfrage zu tun, aber danach ging es wieder weiter. Nehmen wir heute mal die E-Mobilität: Vor Corona stellte sich das Problem, die Kaufprämien überhaupt unter die Leute zu bringen. Als Prognose, bis wann es zu einem umfassenden Einsatz von E-Mobilität kommen könnte, wurden Jahreszahlen wie 2050 genannt. Da stehen heute ganz andere Zahlen im Raum. Auch die Digitalisierung hat einen Schub bekommen, der sonst kaum denkbar gewesen wäre. Wo es den größten Sprung gibt, bei Homeoffice oder virtuellen Veranstaltungen, geht es allerdings auch um Technologien, die vor 15 Jahren imGrunde schon so vorhanden waren. Die Coronapandemie hat nicht unbedingt alle Technologien revolutioniert, aber vieles ist durch den „Schock“ aus der Disruptive Zeiten – wie kann die Transformation gelingen? Das Interview mit Prof. Dr. Enzo Weber führte Prof. Dr. Simone Kauffeld gewohnten Bahn geraten. Dazu gehört auch der Schub, den wir beim Onlinehandel und den Lieferdiensten beobachten können. PERSONALquarterly: Was sind die zentralen Faktoren für eine erfolgreiche Transformation? Welche Handlungsfelder gibt es? Enzo Weber: Transformation kommt nicht von allein, man muss massiv investieren. Öffentlich in die digitale Infrastruktur, in die Mobilitätsinfrastruktur, privatwirtschaftlich in neue Technologien und Geschäftsmodelle. Und in Ausbildung und Qualifizierung, denn die demografische Schrumpfung lässt Wachstum nicht mehr über Masse, sondern nur noch über Klasse zu. Ein Schlüssel für die Transformation hierzulande wird sein, wie man die deutschen wirtschaftlichen Stärken – mittelständische Struktur, berufliche Bildung, sozialpartnerschaftliche Organisation – in die neue Zeit bringt. Vieles davon hat bisher gut funktioniert, und man soll Stärken nicht über Bord werfen, um Trends hinterherzulaufen. Aber man muss auch die nötige Weiterentwicklung angehen, damit Stärken auch unter neuen Bedingungen Stärken bleiben und keine Schwächen werden. Darauf zu schielen, in der Liga amerikanischer Techkonzerne spielen zu wollen, ist kein sinnvolles Ziel. Aber die gute Ausgangsposition etwa in den Bereichen Sensortechnik, Maschinen- und Anlagenbau und Automatisierungstechnik zu nutzen und mit KI- und Cloud-Technologien zu kombinieren, kann erfolgreiche Geschäftsmodelle generieren. PERSONALquarterly: Was bedeutet die Herausforderung der Digitalisierung für Arbeit und Qualifikation? Werden Arbeitsplätze substituiert? Wird uns die Arbeit ausgehen? Wie verändern sich Anforderungen? Wie sehen Sie kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven? Enzo Weber: Es werden viele Tätigkeiten substituiert werden. Vor allem Routinetätigkeiten, die für digitale Technik gut nachvollziehbar sind. Aber es geht keineswegs nur mehr um niedrigqualifizierte Jobs. Gerade in der Mitte des Qualifikationsspektrums wird sich vieles ändern, bei den Facharbeitern etwa. Hier geht es oft um versierte Tätigkeiten, die viel Erfahrung benötigen. Deren Einsatz kann sich aber durch Techno-

7 02 / 22 PERSONALquarterly logien, die aus großen Datenmengen lernen, stark verändern. Aber Substitution ist nur eine Seite der Medaille. Es wird auch neue Produkte geben und neue Dienstleistungen. Mit steigender Produktivität werden Preise sinken und Märkte wachsen. Entstehendes Einkommen wird auch wieder eingesetzt, und zwar nicht nur für Technologie, sondern z. B. auch in soziale Dienstleistungen. All das muss man simultan betrachten. Laut unseren Studien wird uns die Arbeit nicht ausgehen. Es geht also nicht darum, eine Wirtschaft zu organisieren, in der Erwerbsarbeit nicht mehr zur Einkommensverteilung taugt, sondern es geht darum, den Umbruch zu bewältigen. Die Qualifikationsanforderungen werden insgesamt wachsen. Offensichtlich wird es Anforderungen im Bereich IT und grüne Technologien geben. Aber auch allgemeinere Kompetenzen wie Kommunikation oder Abstraktionsfähigkeit werden stärker gefragt sein. Für den Umbruch brauchen wir neue Instrumente. Eine umfassende Finanzierung von Zweitausbildungen etwa. Einen Schub für die berufliche Bildung durch ein Digitalisierungsprogramm für die Ausbildung in Betrieben und Berufsschulen. Ein Konzept für Weiterbildung während Kurzarbeit, das auch in ungeplanten Situationen unter Unsicherheit und Organisationsschwierigkeiten umsetzbar ist. Und wir brauchen eine Weiterbildungspolitik, die direkt an die Erstausbildung anschließt und mit dieser integriert wird. Man erhielte also ein Ausbildungszertifikat, aber das wäre kein „Abschluss“, sondern der Anfang, der Grundstein für eine Weiterentwicklung. Es gäbe einen fortlaufenden Kompetenzrahmen, der nach der Erstausbildung weitere Schritte und Entwicklungsmöglichkeiten beinhaltet. Das könnte auch entsprechend zertifiziert werden. Bildungsinstitutionen wie Hoch- und Berufsschulen könnten in diesem Markt neben den klassischen Weiterbildungsträgern eine wichtigere Rolle spielen. Wenn wir Weiterbildung als Bildung auf Augenhöhe mit der Erstausbildung sehen, gibt es da ganz neue Geschäftsmodelle. PERSONALquarterly: Was sind die Aufgaben der Personalverantwortlichen in Unternehmen im Transformationsprozess? Welche Fehler sollten sie nicht begehen? Enzo Weber: Umbruch darf nicht nur bedeuten, Probleme zu beseitigen, sondern Chancen zu ergreifen. Weiterbildungspolitik ist häufig reaktiv. Sie tritt auf den Plan, wenn es Defizite gibt. Das reicht nicht, denn dann ist es oft schon zu spät. Und man kann den Wettbewerb um die besten Geschäftsmodelle auch nicht gewinnen, wenn alle sich immer nur gerade so hinten am Wagen festhalten. Jemand muss auch vorangehen und vorne ziehen. Deshalb muss Weiterbildungspolitik proaktiv und kontinuierlich sein. Man muss den Mut haben, mit Qualifizierung nicht nur offensichtliche Lücken zu füllen, PROF. DR. ENZO WEBER Forschungsbereichsleiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen (MAKRO) E-Mail: Enzo.Weber@iab.de Prof. Dr. Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Mitglied des Sonderforschungsbereichs 649 „Ökonomisches Risiko“ der Humboldt-Universität zu Berlin, Gastforscher am Japan Center for Economic Research, Postdoc an der Universität Mannheim, Juniorprofessor an der Universität Regensburg und Forschungsprofessor am IAB. Weber ist Arbeitsmarktforscher, Makroökonom, Prognostiker und Ökonometriker. Zu seinen Themen gehören gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktentwicklung und Konjunktur, technologischer Wandel und wirtschaftliche Transformation, Arbeitsmarktreformen und -politik, Wirtschaftskrisen, demografischer Wandel und soziale Sicherung. Er berät nationale und internationale Regierungen, Parlamente, Institutionen, Parteien und Verbände und entwickelt Politikvorschläge für arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Weber gehört hochrangigen Beratungsgremien an.

8 SCHWERPUNKT_INTERVIEW PERSONALquarterly 02 / 22 sondern Kompetenzen zu verbreitern und zu entwickeln. Es geht auch darum, für das Neue zu begeistern und Anstrengungen, die dafür unternommen werden, zu belohnen. Nur so können Unternehmen vorne dran sein. Und dafür braucht es auch von der Politik geeignete Förderinstrumente. PERSONALquarterly: In der Transformation gibt es viele Akteure. Wie stellen Sie sich die Kooperation zwischen Großunternehmen, KMU, Start-ups, Politik und Forschung vor, damit diese Mammutaufgabe gelingen kann? Enzo Weber: Die Transformation ist eine große gesamtwirtschaftliche Aufgabe, die auch gemeinsame Anstrengungen erfordert. Der Staat muss selbst investieren sowie Rahmenbedingungen und Unterstützung schaffen. Dabei sollte aber klar sein, dass privatwirtschaftliche Dynamik der Schlüssel ist. Bestimmte industriepolitische Maßnahmen mit Augenmaß sind möglich, aber der Staat sollte nicht die wirtschaftlichen Entscheidungen treffen, etwa für die eine oder andere Technologie. Fördern kann man diese Dynamik z. B. durch steuerliche Anreize für Investitionen in digitale Technik und Ökologisierung. Auch in der Weiterbildungspolitik sollte der Staat nicht entscheiden, sondern unterstützen, beraten, koordinieren, finanzieren. Kleinere Unternehmen, die nicht wie Konzerne unter ihrem Dach einfach neue Sparten für neue Produkte und Geschäftsmodelle eröffnen können, müssen wir besonders im Blick haben. Deren Transformation ist entscheidend. Ein öffentlich gefördertes Ausbildungsprogramm 4.0, das die Berufsausbildung in KMU digitalisiert und dieses Standbein damit für die neue Welt attraktiv macht, wäre ein wichtiger Baustein. Eine Stärke, die man noch weiterentwickeln kann, liegt auch in der Hochschullandschaft. Lehre und Forschung sind etablierte Standbeine. Genauso wie Hochschulen sich bei der Lehre in der kontinuierlichen Weiterbildung engagieren sollten, kann auch die Forschung zusätzliche Beiträge leisten. Dabei geht es keineswegs nur um den bekannten Technologietransfer, sondern auch um eine Evidenzbasierung der Transformationspolitik. Eine industriepolitische Strategie etwa könnte zielgenauer und mit größerer Akzeptanz verfolgt werden, wenn sie fortlaufend wissenschaftlich evaluiert und entsprechend weiterentwickelt wird. Die Freiheit und Unabhängigkeit von Forschung ist dabei ein immenser Vorteil. „Man kann den Wettbewerb um die besten Geschäftsmodelle nicht gewinnen, wenn alle sich immer nur gerade so hinten am Wagen festhalten. Jemand muss auch vorangehen und vorne ziehen.“ Prof. Dr. Enzo Weber WEITERFÜHRENDE LITERATUR Mönnig, A./Bach, N. von dem/Helmrich, R./Steeg, S./Hummel, M./ Schneemann, C./Weber, E./Wolter, M. I./Zika, G. (2021): „MoveOn” III: Folgen eines veränderten Mobilitätsverhaltens für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. BIBB Wissenschaftliche Diskussionspapiere 230. Wolter, M. I./Mönnig, A./Maier, T./Schneemann, C./Steeg, S./Weber, E./ Zika, G. (2021): Langfristige Folgen der Covid-19-Pandemie für Wirtschaft, Branchen und Berufe. IAB-Forschungsbericht 02/2021. Hutter, C./Weber, E. (2020): Coronakrise: die transformative Rezession. Wirtschaftsdienst, 100, Nr. 6, S. 429-431. Weber, E. (2020): Corona, Strukturwandel und Arbeitsmarkt. IfoSchnelldienst, 73, Nr. 9, S. 17-19. Gartner, H./Hutter, C./Weber, E. (2021): Große Rezession und Coronakrise: Wie der Arbeitsmarkt zwei sehr unterschiedliche Krisen bewältigt. IAB-Kurzbericht 27/2021. Weber, E. (2021): Digitalisierung und Arbeitsmarkt: Wirkungen und Herausforderungen. In: Muckenhuber, J./Griesbacher, M./Hödl, J./Zilian, L. (Hrsg.): Disruption der Arbeit? Zu den Folgen der Digitalisierung im Dienstleistungssektor, S. 21-30. Weber, E. (2021): Qualifizierung: Weiterbildungskonzept für Krisen. Wirtschaftsdienst, 101, Nr. 3, S. 154. Weber, E. (2021): Es gibt keinen Weg zurück in die Zeit vor Corona. Wirtschaftswoche vom 4.6.2021. Wolter, M. I./Mönnig, A./Hummel, M./Weber, E./Zika, G./Helmrich, R./ Maier, T./Neuber-Pohl, C. (2016): Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie. IAB-Forschungsbericht 13/2016.

9 02 / 22 PERSONALquarterly PERSONALquarterly: Als große Herausforderungen in der Wirtschaft werden in den kommenden Jahren u. a. die Digitalisierung, die Dekarbonisierung und die Deglobalisierung beschrieben (IWStudie; Demary et al., 20211). Wo steht die Automobilindustrie in Bezug auf diese Herausforderungen? Thomas Vietor: Die genannten Herausforderungen gelten natürlich für alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Die Mobilität von Personen und Gütern insgesamt hat dabei für die wirtschaftliche Entwicklung und die Lebensqualität des Einzelnen eine hohe Bedeutung und ist von den Herausforderungen gleichfalls betroffen. Die Automobilwirtschaft trägt zu einem wesentlichen Teil zur Wirtschaftskraft eines Landes bei. Sie versorgt Organisationen oder Personen mit Fahrzeugen und trägt damit wesentlich zur Mobilität bei. Die Individualmobilität wird in Zukunft neben dem ÖPNV weiterhin eine große Bedeutung haben. Zu den einzelnen Herausforderungen: Die Digitalisierung betrifft die Automobilindustrie in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird die Produktentwicklung und Produktion verstärkt digitalisiert, wobei hier bereits heute ein hohes Niveau der Digitalisierung erreicht ist. Zum anderen wird das Produkt Fahrzeug selbst immer digitaler mit immer mehr Funktionen, die per Software realisiert sind und in Zukunft die unterschiedlichen Stufen des autonomen Fahrens ermöglicht – vom assistierten Fahren bis hin zur Vollautomatisierung. Weiterhin erlaubt die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle, die teilweise bestehende Geschäftsmodelle verdrängen werden und damit neue Chancen bieten, aber auch Risiken durch den Wegfall etablierter Geschäftsmodelle. Die Dekarbonisierung betrifft den Betrieb des Fahrzeugs, also den Energieverbrauch oder umgangssprachlich für Verbrennungsmotoren den Kraftstoffverbrauch, aber auch den Einsatz von Ressourcen wie Werkstoffen und Energie bei der Produktion des Fahrzeugs und der Verwertung, wenn das Fahrzeug außer Betrieb genommen wird. Hier wird in Zukunft verstärkt der gesamte Lebenszyklus eines Fahrzeugs betrachtet werden; man spricht dann auch von „Circular Economy“. Dies wird die Automobilwirtschaft maßgeblich beeinflussen und durch die vorher bereits angesprochene Digitalisierung teilweise erst ermöglicht. Die große Disruption? Zur Transformation der deutschen Automobilindustrie Das Interview mit Gunnar Kilian (Volkswagen), Dr. Ariane Reinhart (Continental) und Prof. Dr. Thomas Vietor (Niedersächsisches Forschungszentrum Fahrzeugtechnik) führte Prof. Dr. Simone Kauffeld Ariane Reinhart: Die Studie, auf die Sie sich beziehen, sieht neben Digitalisierung, Dekarbonisierung und Deglobalisierung auch das Thema Demografie als eine der großen Herausforderungen für die Wirtschaft. Diese Einschätzung teile ich. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht in vier voneinander getrennten Silos denken. Denn insbesondere im Zusammenwirken der Themen ergeben sich Konflikte, aber auch interessante Chancen – bspw. Digitalisierung und Demografie oder etwas weiter gefasst Digitalisierung und Fachkräftemangel. PERSONALquarterly: Welches Konflikte und Chancen sehen Sie im Zusammenspiel? Welche Auswirkungen sehen Sie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Ariane Reinhart: Das Wort Digitalisierung löst bei vielen Menschen erst einmal Ängste aus und wirft Fragen auf: Wird es meinen Beruf in fünf Jahren noch geben? Oder: Bin ich fit für die digitale Transformation? Diese Ängste müssen wir abbauen. Digitalisierung wird nicht dazu führen, dass es für den Menschen keine Arbeit mehr geben wird. Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, repetitive Tätigkeiten zu automatisieren und die kreativ schöpferische Kraft unserer Mitarbeitenden zu entfesseln. Damit dies gelingen kann, müssen wir heute damit anfangen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihrem aktuellen Kenntnisstand abzuholen, sie wieder ans Lernen heranzuführen und sie mit zielgerichteten Maßnahmen durch diese Transformation zu begleiten. Ähnliches gilt für die Dekarbonisierung. Uns muss klar sein, dass an jeder politischen Entscheidung Tausende Arbeitsplätze und Milliarden Euro an Wertschöpfung der Industrie hängen. Deshalb fordern wir bei Continental ein zielgerichtetes Konzept für den Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland. Wenn wir unsere Klimaziele bis zum Jahr 2045 erreichen wollen, dann muss die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen für eine auf allen Ebenen nachhaltige und zugleich sozialverträgliche Transformation schaffen. Transformation können wir. Aber wir können keine Brüche. Die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, bedeutet folglich nicht nur die Beschleunigung der Transformation, sondern auch das Verhindern großer Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Ein ökonomisch ausgerichtetes Anreizsystemwürde auf 1 Demary, V./Matthes, J./Plünnecke, A./Schaefer, T. (2021): Gleichzeitig. Wie 4 Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern. Herausforderungen und Lösungen; erscheint als IW-Studie.

10 SCHWERPUNKT_INTERVIEW PERSONALquarterly 02 / 22 demWeg zur Klimaneutralität helfen. Die Botschaft muss sein: Klimaneutralität lohnt sich auch wirtschaftlich! Thomas Vietor: Sowohl die Digitalisierung als auch die Dekarbonisierung haben neben den technologischen Herausforderungen einen sehr großen Einfluss auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wesentliche Systeme und Baugruppen der Fahrzeuge werden sich ändern. Hier ist der teilweise Ersatz des Verbrennungsmotors durch den Elektromotor bei Weitem nicht die einzige technologische Änderung. Damit müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Qualifikationen erwerben, die Ausbildung muss sich ändern und alle Arbeitsbereiche werden sich erheblich verändern. Forschung und Ausbildung sind Schlüssel für die Transformation, und die Zusammenarbeit der Wirtschaft mit den Universitäten und Hochschulen ist eine Stärke in Deutschland, die auch in der Transformation eine entscheidende Rolle einnehmen kann. PERSONALquarterly: Sind die großen OEMs und die Zulieferer in Deutschland schnell genug im Transformationsprozess unterwegs? In welchen Bereichen ist der Weg geebnet? Wo besteht Handlungsbedarf, wenn Sie z. B. an die Elektrifizierung oder die Software im Fahrzeug oder die vielfältige Kooperationsbeziehungen denken? Thomas Vietor: Die Transformation wurde in kleinen Schritten bereits vor Jahren eingeleitet. Das zeigt sich z. B. in der Ausstattung von Fahrzeugen, aber auch bei der Sicherheit oder beim Komfort, wo sehr hohe Niveaus heute Standard sind. Die Fahrzeuge selbst, die Entwicklung der Fahrzeuge und die Fahrzeugproduktion hat auch in der Vergangenheit erhebliche Weiterentwicklungen durch und mithilfe der Digitalisierung erfahren. In anderen Bereichen, wie bei der Einführung alternativer Antriebe, wurde aber der Wandel durch die deutsche und europäische Automobilwirtschaft erst sehr spät eingeleitet. So führte die Elektromobilität lange Zeit ein Schattendasein. Dadurch ist in Europa generell ein Rückstand in der Elektromobilität und speziell in der Batterietechnologie entstanden. Durch erhebliche Anstrengungen der Automobilwirtschaft, aber auch durch öffentliche Förderung der Forschung gelingt es hier zunehmend, den Rückstand aufzuholen. Durch neue Marktteilnehmer und weitere technologische Entwicklungen entstehen aber auch immer wieder neue Herausforderungen. Der Weg der Veränderung ist weiter zu gehen und die Entwicklung, z. B. der Batterietechnologie, fortzusetzen. Die benötigten Produktionskapazitäten sind aufzubauen. Die Ansätze zur Bilanzierung aller Ressourcen, die für die Mobilität eingesetzt werden, müssen weiter entwickelt werden und dies bei der Produktion und dem Betrieb von Fahrzeugen durchgängig eingeführt werden. Ariane Reinhart: Wir haben bei Continental bereits seit 2020 einen umfassenden Nachhaltigkeitsfahrplan. Und unser großes Ziel lautet: Bis spätestens 2050 wollen und werden wir ein komplett nachhaltiges Unternehmen sein; ein Unternehmen, das zu 100 % auf Klimaneutralität setzt, das zu 100 % emissionsfreie Mobilität und Industrie ermöglicht, das zu 100 % zirkulär wirtschaftet und das sich auf zu 100 % verantwortungsvolle Wertschöpfungsketten stützt. Dabei ist es unser Anspruch als Zulieferer, die Geschwindigkeit unserer Kunden mitzugehen und sie bei dieser Transformation zu unterstützen. Unsere eigene Produktion macht übrigens nur noch etwa 1 % unseres CO2-Fußabdrucks aus, der Rest entfällt auf vor- und nachgelagerte Prozesse. Die Nutzungsphase unserer Produkte verursacht aktuell noch über 80 % des CO2-Fußabdrucks. Mit der wachsenden Zahl emissionsfreier Fahrzeuge wird dieser Anteil jedoch sukzessive sinken. Daher fokussieren wir uns aktuell auf den zweitgrößten Posten in unserer CO2-Bilanz: eingekaufte Waren. Dekarbonisierung funktioniert nur gemeinsam mit allen Partnern entlang der Wertschöpfungskette. Neben der Dekarbonisierung führt die Digitalisierung in der Automobilindustrie dazu, dass wir heute ganz andere Talente ansprechen und für unseren Konzern begeistern wollen. Unter unseren 193.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind bereits heute 17.000 Software- und IT-Experten, Tendenz steigend. Schon heute stehen wir vor der Herausforderung, Software-Ingenieure in ausreichender Anzahl und mit der richtigen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Deshalb haben wir, um dem wachsenden Bedarf an Software-Experten gerecht zu werden, bereits 2015 den neuen Ausbildungsberuf des mathematisch-technischen Software-Entwicklers geschaffen. 2019 haben wir mit der Gründung der Continental Software Academy eine Plattform entwickelt, auf der wir unsere eigenen Software-Experten aus- und ständig weiterbilden. Heute sind es bereits knapp 25.000 aktive Nutzerinnen und Nutzer, die zielgerichtet an über 500 Kursen teilnehmen können. PERSONALquarterly: Wie sieht die Situation in der Zulieferindustrie vor allem durch die Änderungen der Komponenten (z. B. Antriebsstrang) aus? Welche Herausforderungen gibt es für die Zulieferer? Ariane Reinhart: Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) aus dem Jahr 2021 errechnet für die Technologiewende vom Verbrenner- zum Elektromotor bis 2030 in der Europäischen Union einen Nettoverlust von ca. 36.000 Arbeitsplätzen. Im gleichen Zeitraum erwartet BCG aber Brutto-Auswirkungen auf über 1 Million Jobs. Dabei gehen hauptsächlich Arbeitsplätze in der Fertigung von Motoren und damit verbundenen Komponenten verloren. Neue Jobs hingegen entstehen bspw. in digitalen Technologien, aber auch beim Aufbau und der Wartung der Ladeinfrastruktur. Wie stark ein Zulieferer von der Technologiewende betroffen ist, hängt also maßgeblich vom individuellen Produktportfolio ab. Klar ist jedoch, dass die Technologiewende

11 02 / 22 PERSONALquarterly GUNNAR KILIAN Mitglied des Markenvorstands Volkswagen Pkw, Geschäftsbereich Personal und Mitglied des Konzernvorstands, Geschäftsbereiche Personal und Truck & Bus Gunnar Kilian, geboren 1975 in Westerland/Sylt, arbeitet seit 2000 im Volkswagen-Konzern. Der Aufsichtsrat der Volkswagen AG berief Gunnar Kilian im April 2018 zum Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG für den Geschäftsbereich „Personal“. Seit Juli 2020 verantwortet er im Konzernvorstand zudem den Geschäftsbereich „Truck & Bus“. © Volkswagen AG DR. ARIANE REINHART Mitglied des Vorstands der Continental AG Group Human Relations, Arbeitsdirektorin, Nachhaltigkeit Ariane Reinhart, geboren 1969 in Hamburg, studierte von 1990 bis 1998 Jura. Nachdem sie von 1999 bis 2014 in verschiedenen Positionen für den Volkswagen-Konzern tätig war, u. a. als Mitglied des Vorstands (Personal) von Bentley Motors, ist sie seit Oktober 2014 Personalvorständin und Arbeitsdirektorin der Continental AG in Hannover und verantwortet darüber hinaus den Bereich Nachhaltigkeit. PROF. DR.-ING. THOMAS VIETOR Sprecher des Vorstands Niedersächsisches Forschungszentrum Fahrzeugtechnik, Professor für Konstruktionstechnik der Fakultät für Maschinenbau an der Technischen Universität Braunschweig Thomas Vietor, geboren 1963 in Radevormwald, war von 1994 bis 2009 bei der Ford Werke GmbH auf unterschiedlichen Positionen in der Produktentwicklung tätig. Er ist Mitglied in der Battery Lab Factory Braunschweig (BLB) und im Vorstand der Open Hybrid Lab Factory (OHLF) sowie in verschiedenen Beiräten zu den Themen Mobilität und Automobilwirtschaft. © Continental AG

12 SCHWERPUNKT_INTERVIEW PERSONALquarterly 02 / 22 zu einer Umverteilung der Wertschöpfungstiefe führt und dadurch für tektonische Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Dabei darf es nicht zu einer Optimierung zulasten des Zulieferers kommen, bspw. durch vertikale Integration vorgelagerter Wertschöpfungsschritte der Automobilhersteller. Viel eher sollte dies dazu führen, dass Zulieferer und Hersteller strategische Partnerschaften eingehen, in die beide Seiten ihr Know-how einbringen und so mit vereinten Kräften Lösungen erarbeiten. Ich denke dabei u. a. an zirkuläres Wirtschaften. Durch zirkuläres Wirtschaften können wir endliche Ressourcen unendlich nutzbar machen. Das erfordert aber sowohl eine gemeinsame Entwicklung als auch einen gemeinsamen Ansatz für Recycling und Remanufacturing und würde Fahrzeughersteller und Zulieferer enger aneinander binden. PERSONALquarterly: Was sind die zentralen Faktoren für eine erfolgreiche Transformation in der Automobilindustrie? Wo gibt es Handlungsfelder? Gunnar Kilian: Die gelingende Transformation ist für mich auch eine Frage der Führung. Deshalb gehen wir in der Führungskräfteentwicklung mit speziellen Programmen neue Wege. Unser Senior-Management-Programm bspw. fokussiert sich auf das Thema „Transformation gestalten“. Es teilt sich in zwei Module, welche von der HPI Academy Potsdam und der Business School HEC Paris durchgeführt werden. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind neben „Innovation“ vor allem auch „Kundenzentrierung“ und „neue Geschäftsmodelle“. Damit wollen wir unseren oberen Managementkreis (Anm.: die Ebene unterhalb des Topmanagements) befähigen, das Business und dessen Transformation, neu denken zu können. Insbesondere wollen wir den Gedanken der Zusammenarbeit weiter fördern. So ist das Senior-Management-Programm als Konzernprogramm konzipiert worden, damit sich die neu ernannten Mitglieder des oberen Managementkreises der verschiedenen Marken kennenlernen und vernetzen. Denn wir können die Transformation unseres Konzerns nur gemeinsam zu einer Erfolgsgeschichte machen, wenn auch alle davon profitieren – Management und Beschäftigte zusammen. Das Senior-Management-Programm ist übrigens ein Pflichtbaustein unserer Managemententwicklung im Konzern. PERSONALquarterly: Was bedeutet die Transformation der Mobilität für Arbeit und Qualifikation? Gunnar Kilian: Rund die Hälfte unserer weltweit mehr als 670.000 Beschäftigten ist heute in der traditionellen Automobilproduktion tätig ist. Darumwird der Volkswagen-Konzern in den kommenden Jahren ein umfassendes Transformationsprogramm in der Belegschaft umsetzen. Um sicherzustellen, dass die Beschäftigten verantwortungsvoll durch den Wandel geführt werden, arbeitet der Vorstand dabei eng mit dem Betriebsrat zusammen. So werden u. a. umfangreiche Ressourcen für Qualifizierungen zum Erwerb softwarebasierter Fähigkeiten bereitgestellt. Volkswagen hat bspw. seine deutschen Standorte bereits fit für die Zukunft gemacht, das Komponentengeschäft des Konzerns transformiert und das Werk in Zwickau zum E-Mobilitäts-Hub umgewandelt. Ähnliche Transformationen für die Werke in Emden und Hannover sind auf dem Weg. Im Hauptwerk Wolfsburg planen wir eine komplett neue Fertigung für ein E-Fahrzeug. Bei diesen Veränderungen müssen aus Sicht von HR eindeutig die Menschen mit im Mittelpunkt stehen. Denn es sind eben die Menschen in unserem Unternehmen, die auf unserem Weg zum softwaregetriebenen Mobilitätsanbieter der entscheidende Erfolgsfaktor sind. Ariane Reinhart: Als Folge der Technologiewende müssen, wie ein Beratungsunternehmen errechnet hat, bis 2030 allein in der Europäischen Union 1 Million Menschen, die heute in der Automobilindustrie arbeiten, auf neue Tätigkeitsfelder und -profile vorbereitet werden. Im gleichen Zeitraum erwartet die Europäische Kommission bspw. 160.000 neue Arbeitsplätze im Energie- und Heizungssektor, um die Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern und den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu senken. Genau dafür brauchen wir einen Transformationsmasterplan für die EU. Über eine strategische Personalplanung müssen wir erfassen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit welchen Kompetenzen die europäische Wirtschaft in fünf Jahren braucht. Darauf abgestimmt müssen europaweit nationale Qualifizierungspläne erstellt werden. Angefangen bei den Ausbildungsplätzen und Universitäten bis zu Weiterbildungsmaßnahmen und Umqualifizierungen, intern in Unternehmen ebenso wie durch staatliche Institutionen und gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen. Diesen Hebel müssen wir nutzen, um sowohl in der EU als auch in Deutschland die Transformation und den Strukturwandel zu gestalten. PERSONALquarterly: Herr Kilian, Sie haben bei Volkswagen mehrere Initiativen gestartet. Welche helfen, den Wandel zu gestalten? Wie gelingt es Ihnen, die Mitarbeitenden auf dem Weg mitzunehmen? Gunnar Kilian: Die Grundvoraussetzung, um die Transformation im Sinne des Unternehmens und der Beschäftigten zu steuern, ist zunächst ein entsprechend aufgestellter Personalbereich, der als Change Manager, Gestalter von Blaupausen für die Transformation und Architekt des operativen Umbaus im Unternehmen wirken kann. Unsere Strukturreform haben wir im Laufe des Jahres 2019 erarbeitet und zum 1. Januar 2020 in Kraft gesetzt. Das neue „Operating Model“ – wir nennen es „One HR“ – erlaubt es uns, viel stärker als zuvor zum strategischen Treiber der Transformation zu werden. Das bedeutet auch, die Belegschaften in unseren Unternehmen und Institutionen so aufzustellen, dass sie die neuen Herausforderungen

13 02 / 22 PERSONALquarterly annehmen und bewältigen können. Über die große Bandbreite der Qualifizierungsinitiativen bei Volkswagen sprechen wir daher gleich nochmals an anderer Stelle detaillierter. Darüber hinaus verbessern wir stetig und mit sehr gutem Erfolg unsere Mitarbeiterkommunikation. Nicht zuletzt aufgrund der Pandemie ist es meiner Meinung nach noch wichtiger als zuvor, den Informationsfluss im Unternehmen zu intensivieren, den Dialog zwischen Beschäftigten und Führungskräften aufrechtzuerhalten und weiterhin Möglichkeiten zum Feedback zu bieten. Daher gehen wir in der Mitarbeiterkommunikation immer neue Wege und probieren auch neue, innovative Formate aus. Ich selbst bin z. B. regelmäßig mit Podcasts zu wechselnden aktuellen Themen unterwegs. Videos, Service- und Infoseiten, aber auch Livestreams, die bei uns im 360°-Volkswagen-Net laufen, sind weitere Beispiele. Denn wir sind überzeugt: Eine transparente Kommunikation ist nicht nur Zeichen einer offenen Kultur. Sie sensibilisiert zudem die Kolleginnen und Kollegen für den Wandel, nimmt sie auf diesem Weg mit und schafft Vertrauen in die Strategie des Managements. PERSONALquarterly: Wie genau bilden Sie die Mitarbeitenden weiter? Welche Ansätze verfolgen Sie? Welche Zielgruppen adressieren Sie? Gunnar Kilian: In Zeiten des Wandels ist die Entwicklung zu neuen Kompetenzen natürlich der Königsweg, um eine Belegschaft zu transformieren. Gemeinsam mit dem Betriebsrat haben wir frühzeitig die Weichen gestellt, um die vielerorts prognostizierte Beschäftigungskrise, die für viele mit der Transformation zur Elektromobilität und Digitalisierung verbunden ist, für Volkswagen in eine Chance zu wandeln. Zu diesem Ergebnis kam vor rund einem Jahr auch die Fraunhofer-IAO-Studie zur Beschäftigung bei Volkswagen, die der unabhängige Volkswagen-Nachhaltigkeitsbeirat in Auftrag gegeben hatte. Sie besagt, dass anstelle des oftmals befürchteten linearen „Jobkahlschlags“ unsere Beschäftigung im Zeithorizont bis 2030 vielmehr parallel um-, ab- und aufgebaut wird. Diese Veränderung geschieht in einer Geschwindigkeit, die es uns ermöglicht, den Wandel sozialverträglich zu gestalten und gleichzeitig interne Qualifizierungsformate zu forcieren. Neben der bereits genannten Weiterbildung von über 8.000 Kolleginnen und Kollegen an unserem Elektrostandort in Zwickau sind ähnliche Initiativen auch an den anderen Standorten wie Hannover, Emden, Braunschweig und natürlich Wolfsburg bereits umgesetzt oder auf den Weg gebracht. Die Bandbreite der Weiterbildungen ist entsprechend groß: Sie reicht von der Arbeit mit einer neuen Anlage bis zur Qualifizierung für einen ganz neuen Job. Teils handelt es sich umwirklich langfristige Qualifizierungsmaßnahmen mit Programmen, die bis zu 18 Monaten dauern, um auch große Kompetenzsprünge unserer Beschäftigten zu bewerkstelligen. Ein weiteres Beispiel ist unsere Bildungsoffensive im Bereich der E-Mobilität in Emden. Mehr als 8.000 Beschäftigte bereiten wir dort auf die künftige Produktion mit demmodularen Elektrifizierungsbaukasten (MEB) vor und qualifizieren sie für die neuen Aufgaben. Dafür sind bis Ende 2021 bereits mehr als 36.000 Trainingstage für E-Mobilität angefallen. Im laufenden Jahr werden es nochmals 10.000 Tage. Zudem werden im Werk Emden sog. MEB-Multiplikatoren ausgebildet. Das sind ursprünglich Mitarbeitende aus der Montage, die ihr neu erworbenes Wissen über Elektrifizierung und Transformation an ihre Kollegen weitergeben. Koordiniert werden alle Qualifizierungsinitiativen über die Volkswagen Group Academy. Das Team zeichnet auch für unsere gerade erst im Dezember 2021 gestartete digitale Lernplattform „Degreed“ verantwortlich. Mit Degreed bauen wir aktuell ein ganz neues Lernökosystem bei Volkswagen auf. Unser Ziel ist es, durch diese Plattform Lernen zu skalieren und so die Qualifizierung unserer Belegschaft zu beschleunigen. Auf Degreed sind daher für die einzelnen Berufe Qualifizierungspfade und Anforde­ „Grundvoraussetzung, um die Transformation zu steuern, ist ein entsprechend aufgestellter Personalbereich, der als Game Changer, Gestalter der Blaupausen für die Transformation und Architekt des operativen Umbaus im Unternehmen wirken kann.“ Gunnar Kilian

14 SCHWERPUNKT_INTERVIEW PERSONALquarterly 02 / 22 rungsprofile hinterlegt. Jede und jeder Beschäftigte kann so erkennen, über welches Wissen sie oder er im Beruf verfügen sollte oder welche Kompetenzen für den nächsten Karriereschritt benötigt werden. Für Volkswagen ist Degreed eine kleine Revolution, die das Lernen grundlegend verändern wird. PERSONALquarterly: Grundlegend andere Wege geht Volkswagen auch bei den Initiativen zur Stärkung der Softwarekompetenz. Wie stellen Sie an diesem neuralgischen Punkt die Weichen für die Zukunft? Gunnar Kilian: Wie bei Degreed geht es bei unserer SoftwareTalentschmiede „Fakultät 73“ ebenso um innovatives Lernen, aber mit klarem Fokus auf Software. An der Fakultät 73 bildet Volkswagen 100 Softwareentwickler pro Jahrgang selbst aus. Zu den Teilnehmern gehören Volkswagen-Beschäftigte mit Software-Know-how und Lust auf Neues, Quereinsteiger aus anderen akademischen Berufen, aber auch Studienabbrecher. Innerhalb von zwei Jahren qualifizieren wir sie zu Softwareentwicklern. Ihre Ausbildung endet mit einem IHK-Abschluss. 94 Beschäftigte des ersten Jahrgangs haben die Ausbildung im März 2021 bereits erfolgreich abgeschlossen. Bis zum Jahr 2024 können aus der Fakultät 73 bis zu 1.000 Softwareentwickler hervorgehen. Neben der Fakultät 73 haben wir eine weitere Ausbildungsinstitution für IT-Fachkräfte ins Leben gerufen und nach Wolfsburg geholt: die von Volkswagen unterstützte Programmierschule „42 Wolfsburg“. Dabei handelt es sich um eines der spannendsten Ausbildungskonzepte für Softwareentwickler in Europa. Das Besondere an der Schule: Es gibt weder Lehrkräfte noch Kurse oder Stundenpläne, stattdessen lernen die Studierenden selbstorganisiert. Damit erwerben sie nicht nur Programmierkenntnisse, sondern zugleich eine wichtige Kompetenz, die in der Arbeitswelt von morgen äußerst gefragt ist. Bis Ende 2022 sollen an der „42 Wolfsburg“ 600 Studierende zugelassen werden. Noch in diesem Jahr wird zudem in der Hauptstadt die „42 Berlin“, ebenfalls mit einer Kapazität für 600 Studierende, ihre Tore öffnen. Mit unserem Engagement bei der „42 Wolfsburg“ und der „42 Berlin“ unterstützen wir nicht nur innovative Formen des Lernens, sondern vor allem auch die nächste Generation von Digitalexperten, die die Zukunft der Mobilität bei Volkswagen mitgestalten werden. Schließlich entscheidet unsere Softwarekompetenz darüber, wie schnell und wie nachhaltig Volkswagen den Sprung ins digitale Zeitalter meistert. Die Fakultät 73 und 42 Wolfsburg sind wichtige und vielversprechende Bausteine beim Aufbau eines digitalen Volkswagens. PERSONALquarterly: Frau Dr. Reinhart, Sie haben bei Continental als großem Akteur in der Zulieferindustrie ein Bildungsinstitut gegründet. Welche Ziele verfolgen Sie damit? Ariane Reinhart: Die vorrangige Aufgabe des Continental Instituts für Technologie und Transformation (CITT) ist die Qualifizierung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit auf dem internen und externen Arbeitsmarkt. Beim Start im Oktober 2019 lag der Fokus auf der Gruppe der Un- und Angelernten in Deutschland, denen Continental eine IHK-zertifizierte Weiterbildung ermöglicht. Das Angebot des Instituts schließt dabei die Themenbereiche Industrie 4.0, neue Antriebskonzepte und Digitalisierung ein. Seitdem haben wir sowohl die Angebote als auch die Zielgruppe sukzessive erweitert und bieten nun bspw. auch E-Learnings zum Thema digitale Kompetenzen für Fach- und Führungskräfte an. Das große Engagement und der Erfolg der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigt uns, dass wir genau den richtigen Ansatz entwickelt haben. Bis zum Jahresende 2021 haben bereits 3.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen des CITT teilgenommen. Und in diesem Jahr werden wir mit dem CITT den nächsten Schritt wagen und unseren ersten Standort in Frankreich eröffnen. Ich bin davon überzeugt, nichts schützt so gut vor Arbeitslosigkeit wie eine gute berufliche Ausbildung in Verbindung mit regelmäßigen Weiterbildungsmaßnahmen. „Mit Blick auf den demografischen Wandel brauchen wir in Deutschland jede Arbeitskraft und wir müssen dafür sorgen, dass diese Arbeitskräfte mit dem richtigen Fachwissen ausgestattet sind und an der richtigen Stelle wirken können.“ Dr. Ariane Reinhart

15 02 / 22 PERSONALquarterly PERSONALquarterly: Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Qualifikation von Ungelernten? Ariane Reinhart: Grundsätzlich gibt es eine große Herausforderung bei der Qualifikation, die nichts mit den Teilnehmenden zu tun hat, und das ist die Finanzierung. Wollten wir nur 20 % unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland für jeweils 9 Monate qualifizieren, entstünden für uns eine Milliarde Euro an Lehrgangs- und Arbeitsausfallkosten. Das breite Spektrum der Teilnehmenden aus allen Altersklassen, von Mitte 20 bis Ende 50, mit unterschiedlichster Vorbildung und beruflicher Vergangenheit ist für mich erst einmal Ausdruck der überwältigenden Motivation unserer Mitarbeitenden, sich weiter qualifizieren zu wollen. Über valide diagnostische Verfahren ermitteln wir die individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten der Beschäftigten und gleichen diese mit dem künftigen Aufgabenfeld ab. Dort, wo es Qualifizierungsbedarf gibt, wird nachgeschult. Natürlich fällt es manchen leichter, wieder die Schulbank zu drücken, als anderen. Ich bekomme aber die Rückmeldung, dass sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kursen gegenseitig unterstützen und unsere Unternehmenskultur auch in den Räumen des CITT gelebt wird. Neben dem Engagement unserer Belegschaft braucht es aber auch einen gesetzlichen Rahmen. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir ein sehr gutes und wichtiges Instrument zur Bewältigung der Transformation in Deutschland. PERSONALquarterly: Werden alle Mitarbeitenden in der Zulieferindustrie gehalten werden oder braucht es nicht auch eine Entwicklung in andere Branchen, in den Fachkräfte dringend gebraucht werden? Ariane Reinhart: Ich gebe ihnen vollkommen recht: Wir müssen über unsere eigene Industrie hinausblicken. Und ich bin davon überzeugt, dass wir eine strategische Personalplanung für ganz Deutschland benötigen. Auch in der aktuellen Transformation kristallisieren sich Regionen heraus, die stärker getroffen sein werden als andere. Deshalb haben wir mit der Allianz der Chancen die erste Branchen und Regionen übergreifende Initiative von mittlerweile 33 Unternehmen und Institutionen gegründet, die in Deutschland mehr als 1,1 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertritt. Als Verantwortungsgemeinschaft wollen wir gemeinsam die Transformation der Arbeitswelt nachhaltig gestalten. Ziel der Allianz ist es dabei, Menschen von Arbeit in Arbeit zu bringen und Arbeitslosigkeit durch neue Beschäftigungsperspektiven zu verhindern. Denn wir haben auch perspektivisch in Deutschland nicht zu wenig Arbeit, ganz im Gegenteil. Mit Blick auf den anstehenden demografischen Wandel brauchen wir in Deutschland jede Arbeitskraft und müssen dafür sorgen, dass diese Arbeitskräfte mit dem richtigen Fachwissen ausgestattet sind und an der richtigen Stelle wirken können. Thomas Vietor: Nahezu alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden zumindest teilweise andere Qualifikationen erwerben müssen. Das kann im gleichen Unternehmen sein, kann aber auch eine Änderung des Arbeitgebers bedeuten. Daher ist es wichtig, dass Programme entwickelt werden, mit denen die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergänzt und erweitert werden. Hierzu bedarf es einer objektiven Bewertung der vorhandenen und eine Erfassung der für eine neue Tätigkeit benötigten Qualifikationen sowie einer gezielten Weiterentwicklung für die neue Arbeit. Damit kann eine neue Beschäftigung erreicht werden. Es ist das Ziel, möglichst viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der gleichen Branche zu beschäftigen, aber es kann auch sein, dass ein Wechsel der Branche erforderlich ist. Auch hierfür sind Qualifikationsmaßnahmen zu entwickeln. PERSONALquarterly: Inwieweit können von den Aktivitäten der OEM, wie von Herrn Kilian und Frau Reinhart anschaulich beschrieben, oder der großen Zulieferer auch KMU profitieren? Ariane Reinhart: Transformation findet in den Regionen statt. Um diese erfolgreich zu gestalten, brauchen wir vor Ort ein enges Netzwerk an Partnern. Deshalb steht die Allianz der Chancen sowohl großen Automobilherstellern und Zulieferern als auch KMUs offen. Und wir haben auch bereits KMUs als Mitstreiter für unsere Initiative gewinnen können. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Initiative umso stärker wird, je mehr Unternehmen sich engagieren. In einem engmaschigen Netzwerk können wir effizient Brücken in neue Beschäftigung bauen und so den Wandel als Chance nutzen. Gleiches gilt für Qualifizierungsoffensiven. Wie auch in der sog. „Nationalen Plattform Mobilität“ (NPM) erarbeitet, brauchen wir regionale Kompetenz-Hubs, um die Qualifizierung in den Regionen zu bündeln und gemeinsam zu gestalten. Genauso kann ich mir vorstellen, unser CITT zu öffnen und dort Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus einer Region, aber aus unterschiedlichen Unternehmen gemeinsam zu qualifizieren. Bereits heute bilden wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im CITT aus, die nach Abschluss ihrer Qualifizierungsmaßnahmen eine Beschäftigung bei einem anderen Unternehmen beginnen. Wir müssen uns eines klar machen: Gemeinsame Herausforderungen brauchen gemeinsame Lösungen. Niemand wird die Transformation der Arbeitswelt allein lösen. Deshalb müssen alle Akteure an einen Tisch: Unternehmen, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und natürlich die Sozialpartner. PERSONALquarterly: Was sind die größten Herausforderungen in der Zukunft, wenn Sie das Personal im Blick haben? Wie kann Transformation gemeistert werden? Gunnar Kilian: Elementar ist es, die Veränderung im Sinne der Beschäftigten proaktiv, vorausschauend und so sozialverträglich wie möglich zu gestalten. Ich bin fest davon überzeugt,

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==