9 02 / 22 PERSONALquarterly PERSONALquarterly: Als große Herausforderungen in der Wirtschaft werden in den kommenden Jahren u. a. die Digitalisierung, die Dekarbonisierung und die Deglobalisierung beschrieben (IWStudie; Demary et al., 20211). Wo steht die Automobilindustrie in Bezug auf diese Herausforderungen? Thomas Vietor: Die genannten Herausforderungen gelten natürlich für alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Die Mobilität von Personen und Gütern insgesamt hat dabei für die wirtschaftliche Entwicklung und die Lebensqualität des Einzelnen eine hohe Bedeutung und ist von den Herausforderungen gleichfalls betroffen. Die Automobilwirtschaft trägt zu einem wesentlichen Teil zur Wirtschaftskraft eines Landes bei. Sie versorgt Organisationen oder Personen mit Fahrzeugen und trägt damit wesentlich zur Mobilität bei. Die Individualmobilität wird in Zukunft neben dem ÖPNV weiterhin eine große Bedeutung haben. Zu den einzelnen Herausforderungen: Die Digitalisierung betrifft die Automobilindustrie in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird die Produktentwicklung und Produktion verstärkt digitalisiert, wobei hier bereits heute ein hohes Niveau der Digitalisierung erreicht ist. Zum anderen wird das Produkt Fahrzeug selbst immer digitaler mit immer mehr Funktionen, die per Software realisiert sind und in Zukunft die unterschiedlichen Stufen des autonomen Fahrens ermöglicht – vom assistierten Fahren bis hin zur Vollautomatisierung. Weiterhin erlaubt die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle, die teilweise bestehende Geschäftsmodelle verdrängen werden und damit neue Chancen bieten, aber auch Risiken durch den Wegfall etablierter Geschäftsmodelle. Die Dekarbonisierung betrifft den Betrieb des Fahrzeugs, also den Energieverbrauch oder umgangssprachlich für Verbrennungsmotoren den Kraftstoffverbrauch, aber auch den Einsatz von Ressourcen wie Werkstoffen und Energie bei der Produktion des Fahrzeugs und der Verwertung, wenn das Fahrzeug außer Betrieb genommen wird. Hier wird in Zukunft verstärkt der gesamte Lebenszyklus eines Fahrzeugs betrachtet werden; man spricht dann auch von „Circular Economy“. Dies wird die Automobilwirtschaft maßgeblich beeinflussen und durch die vorher bereits angesprochene Digitalisierung teilweise erst ermöglicht. Die große Disruption? Zur Transformation der deutschen Automobilindustrie Das Interview mit Gunnar Kilian (Volkswagen), Dr. Ariane Reinhart (Continental) und Prof. Dr. Thomas Vietor (Niedersächsisches Forschungszentrum Fahrzeugtechnik) führte Prof. Dr. Simone Kauffeld Ariane Reinhart: Die Studie, auf die Sie sich beziehen, sieht neben Digitalisierung, Dekarbonisierung und Deglobalisierung auch das Thema Demografie als eine der großen Herausforderungen für die Wirtschaft. Diese Einschätzung teile ich. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht in vier voneinander getrennten Silos denken. Denn insbesondere im Zusammenwirken der Themen ergeben sich Konflikte, aber auch interessante Chancen – bspw. Digitalisierung und Demografie oder etwas weiter gefasst Digitalisierung und Fachkräftemangel. PERSONALquarterly: Welches Konflikte und Chancen sehen Sie im Zusammenspiel? Welche Auswirkungen sehen Sie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Ariane Reinhart: Das Wort Digitalisierung löst bei vielen Menschen erst einmal Ängste aus und wirft Fragen auf: Wird es meinen Beruf in fünf Jahren noch geben? Oder: Bin ich fit für die digitale Transformation? Diese Ängste müssen wir abbauen. Digitalisierung wird nicht dazu führen, dass es für den Menschen keine Arbeit mehr geben wird. Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, repetitive Tätigkeiten zu automatisieren und die kreativ schöpferische Kraft unserer Mitarbeitenden zu entfesseln. Damit dies gelingen kann, müssen wir heute damit anfangen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihrem aktuellen Kenntnisstand abzuholen, sie wieder ans Lernen heranzuführen und sie mit zielgerichteten Maßnahmen durch diese Transformation zu begleiten. Ähnliches gilt für die Dekarbonisierung. Uns muss klar sein, dass an jeder politischen Entscheidung Tausende Arbeitsplätze und Milliarden Euro an Wertschöpfung der Industrie hängen. Deshalb fordern wir bei Continental ein zielgerichtetes Konzept für den Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland. Wenn wir unsere Klimaziele bis zum Jahr 2045 erreichen wollen, dann muss die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen für eine auf allen Ebenen nachhaltige und zugleich sozialverträgliche Transformation schaffen. Transformation können wir. Aber wir können keine Brüche. Die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, bedeutet folglich nicht nur die Beschleunigung der Transformation, sondern auch das Verhindern großer Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Ein ökonomisch ausgerichtetes Anreizsystemwürde auf 1 Demary, V./Matthes, J./Plünnecke, A./Schaefer, T. (2021): Gleichzeitig. Wie 4 Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern. Herausforderungen und Lösungen; erscheint als IW-Studie.
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