Personal Quarterly 1/2021

70 SERVICE _EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND PERSONALquarterly 01/21 B eim WM-Finale 1954, dem „Wunder von Bern“, gab es während der Halbzeit in der deutschen Kabine Streit und Vorwürfe. Trainer Sepp Herberger ging dazwi- schen und sagte: „Kämpft! Einer für alle und alle für einen. Das war und ist unser Motto. So, und nun raus auf den Platz!“ 36 Jahre später wurde Deutschland wieder Weltmeister. Vor dem Finale in Rom gegen Argentinien sagte Teamchef Be- ckenbauer zur Mannschaft: „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ Nun glaube niemand, in beiden Fällen hätte es jenseits der men- talen Befeuerung keinen taktischen Plan gegeben. Aber im Ver- gleich mit den heutigen ausgetüftelten „Match-Plänen“ müssen auch die 1990er noch als taktische Steinzeit gelten. Das ist unter anderem deswegen der Fall, weil heutzutage eine schier astronomische Menge von Daten über die Fußball- spiele erhoben wird. Ein Beispiel: Als Mario Götze beim WM- Finale von 2014 eine entscheidende Rolle spielte, war danach über ihn bekannt, dass er in dieser Partie 32 Minuten gespielt hatte, 5.500 Meter gelaufen war, bei Sprints bis zu 28 km/h er- reicht und drei von fünf Zweikämpfen verloren hatte. Er schoss zweimal aufs Tor, einmal daneben, und das andere Mal traf er – Deutschland war Weltmeister. Die deutschen Analysten konnten bei dieser WM angeblich auf 7.000 Spiele der deut- schen WM-Gegner zurückgreifen. Die Datenbank der Deut- schen Fußball Liga sammelt an einem Bundesliga-Spieltag ein Terabyte Daten, pro Saison werden 500.000 Pässe analysiert, 6.000 Ecken, 150.000 Zweikämpfe und 17.000 Torschüsse. An der Sporthochschule Köln gibt es einen Magisterstudiengang „Spielanalyse“. Graben zwischen Fans und Kennern wird vertieft Die gigantischen analytischen Möglichkeiten lassen Träume von der Planbarkeit des Spiels wachsen. Auf dem Höhepunkt des Datenwahns saßen Nerds in ihren Kellern und phanta- sierten in Frankensteinscher Vorfreude von Fußballprofis als gesteuerten Ausgeburten eines verwissenschaftlichen Spiels. Dabei hatte Sepp Herberger doch den unerreichten Satz ge- prägt: „Die Faszination des Fußballs liegt darin, dass keiner weiß, wie es ausgeht.“ So ganz nebenbei vertieft der „wissenschaftliche“ Ansatz auch den Graben zwischen den „normalen“ Fans, die von der Identifikation und Emotion leben, und den „wahren“ Kennern des Spiels. Die meisten Fußballanhänger interessieren sich nicht die Bohne für verfeinerte Positionsdiagramme und tak- tischen Overkill. Unerreichter Höhepunkt ist hier immer noch die Analyse von Schalkes Trainer Tedesco nach dem Spiel ge- gen das von Julian Nagelsmann gecoachte Hoffenheim: „Sie haben in einem 3-1-4-2 angefangen, haben dann umgestellt auf ein 3-4-3, wir mussten das dann auch tun, weil wir ansonsten mit den zwei Stürmern und auch dem Zehner keinen Zugriff auf die beiden Sechser von Hoffenheim bekommen hätten. Das hat er dann auch gesehen, hat 4-1-4-1 oder 4-3-3 gespielt, und wir haben dann auf 5-2-1-2 umgestellt.“ Hä? Nein, das begreift keiner außerhalb der Profiblase, vielleicht sind mit solchem taktischen Irrsinn sogar die Spieler überfordert. Ohnehin hat sich der anfängliche Fetischismus angesichts der vielen tollen Daten etwas gelegt. Der Charakter der Spieler, der Teamgeist, Pech und Glück, punktuelles Versagen, individuelle Glanz- taten, das alles hat mindestens genauso viel Einfluss auf den Ausgang eines Spiels wie die messerscharfe Analyse von Spiel- daten. Das versucht auch niemand mehr zu leugnen. Maßstab für die Qualität von Pässen eingeführt Außerdem wurde bestimmten Fakten anfangs eine zumin- dest übertriebene Bedeutung beigemessen. Es gab mal eine Mannschaft, die schoss bei einem Spiel häufiger aufs Tor als die andere, sie hatte die größere Zahl erfolgreicher Pässe und platzierte mehr Pässe ins Angriffsdrittel – die Mannschaft hieß Brasilien und verlor dann 2014 gegen Deutschland 1:7. Beim EM-Halbfinale 2016 gegen Frankreich liefen die Deut- schen fünf Kilometer mehr als der Gegner, hatten 65 Prozent Ballbesitz und spielten doppelt so viele Pässe wie der Gegner – Deutschland verlor am Ende allerdings 0:2. Wer viel läuft, läuft vielleicht wie Falschgeld durch die Gegend, und wer oft den Ball hat, stellt damit nicht unbedingt etwas Sinnvolles an. Da die Daten-Analytiker aber nicht nur verpeilte Freaks sind, haben sie reagiert. Zum Beispiel bei der Bewertung von Spieldaten. Die Leverkusener Ex-Fußballprofis Stefan Reinartz und Jens Hegeler führten beispielsweise als Maßstab für die Qualität von Pässen die Zahl der überspielten Gegner ein und nannten das Ganze „Packing“. Eine schlaue Idee, eine Analyse mit Aussagekraft, dennoch bleibt es dabei: Entscheidend für die Qualität des Spiels ist nicht die bessere Packing-Quote, sondern, dass Schalke es am Ende gewinnt. Über die Datenflut im Fußball Manni Breuckmann, als Sportreporter im Hörfunk, als Krimiautor auf Mallorca und im Ruhrpott-Fußball unterwegs, beantwortet die entscheidende Frage: Sind Fußballprofis heute Roboter?

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==