Personal Quarterly 1/2021
55 01/21 PERSONALquarterly Kandidaten, die sich eine SIE nicht oder eher nicht vorstellen können, eher weniger wichtig (M = 2,78 bzw. M = 2,17). Womit könnte das zusammenhängen? Einen Kulturschock befürch- ten die Hochschulabsolventen möglicherweise nicht wegen der umfassenden internationalen Erfahrung, die sie schon während ihres Studiums gesammelt haben. Die Reintegration ist für Hochschulabsolventen vermutlich noch kein Thema, da sie sich aufgrund ihres Alters und der fehlenden Vorerfah- rung im Unternehmen (inkl. eines fehlenden Austauschs mit ehemaligen Entsandten) noch nicht der mit einer Rückkehr verbundenen Herausforderungen bewusst sind. Zudem sind die Hochschulabsolventen noch meist ohne Familie, das heißt sie sind flexibler im Bezug darauf, was nach der SIE kommt. Wenn wir die Studierenden bitten, die folgenden sechs Bedenken zu gewichten, stellen sie familiäre Bedenken (für 32,9 %Rang 1) und finanzielle Bedenken (für 22 % Rang 1) an erste Stelle. Work-Life-Balance und die Sprachbarriere sind für sie von mittlerer Wichtigkeit. Ein möglicher Kulturschock (für 35,4 % Rang 5, für 22 % Rang 6) und Reintegration (für 42,7 % Rang 6) sind für sie am wenigsten wichtig. Bei der Einschätzung der Bedenken haben wir Unter- schiede in den zentralen Tendenzen im Antwortverhalten bei Frauen und Männern festgestellt. Wir haben die Antworten der Frauen und der Männer, die sich eine selbstinitiierte Auswanderung vorstellen können, verglichen und mithilfe eines Mann-Whitney-U-Tests untersucht, ob es signifikante Unterschiede in der zentralen Tendenz der Ergebnisse gibt. 6 Betrachten wir zunächst das Antwortverhalten bei den Beden- ken, dass die Familie zu Hause ernste Probleme haben könnte, gesondert nach Geschlecht. Frauen haben in Bezug auf diesen Aspekt stärkere Bedenken (Median 7 = 4) als Männer (Median = 3) (exakter Mann-Whitney-U-Test: U = 491,50, p = 0,001). Die Effektstärke nach Cohen (2013) liegt bei r = 0,365 und entspricht damit einem mittleren Effekt. Ebenso starke, si- gnifikante Unterschiede können nachgewiesen werden bei der Aussage „Ich habe Angst, dass mein Gehalt im Ausland nicht ausreichen wird, um meine Lebenshaltungskosten zu decken.“ Frauen haben hier ebenfalls mehr Bedenken (Medi- an = 3) als Männer (Median = 2,5) (U = 560.50, p = 0,009, r = 0,291). Daneben wurden keine weiteren signifikanten Unter- schiede gefunden. Wir haben uns auch gefragt, ob sich die beiden Gruppen der Bachelor- und Masterabsolventen hinsichtlich der zentralen Tendenz bei der Zustimmung der verschiedenen Aussagen zu einer SIE unterscheiden. Es wurden folgende signifikante Un- terschiede festgestellt: Zunächst ist festzustellen, dass Mas terabsolventen stärkere Bedenken (Median = 4) haben, dass ihre Familie mit ernsthaften Problemen konfrontiert ist, wäh- rend sie nicht vor Ort sind, als Bachelorabsolventen (Median = 3) (exakter Mann-Whitney-U-Test: U = 252,50, p = 0,004). Die Effektstärke nach Cohen (2013) liegt bei r = 0,314 und entspricht einemmittleren Effekt. Außerdem konnte ein stark signifikanter Unterschied dieser beiden Gruppen nachgewie- sen werden bei der Befürchtung, dass die Arbeit im Ausland viel mehr Einsatz erfordert. Masterabsolventen stimmen dem eher zu (Median = 4) als Bachelorabsolventen (Median = 3) (U = 256, p = 0,005, r = 0,309). Die Ängste, nach dem Auslandsaufenthalt im Heimatland wieder einen Job zu fin- den, werden je nach Abschlussniveau unterschiedlich bewer- tet. Während Bachelorabsolventen weniger Bedenken dabei haben (Median = 2), glauben mehr Masterabsolventen, dass dies ein Problem sein könnte (Median = 3) (U = 290,5, p = 0,016, r = 0,266). Karriereerwartungen und Strategien zur Personalbindung Welche Vorstellung haben Hochschulabsolventen von ihren Karrierewegen nach einer SIE? Dazu haben wir diejenigen Teilnehmer befragt, die sich prinzipiell eine SIE vorstellen können. Interessanterweise ist der typische Karriereweg des klassischen Expats, nämlich die Rückkehr ins Heimatland, nicht die am häufigsten erwartete Perspektive. Vielmehr gilt für 39,2 % der Teilnehmer, die sich eine SIE (vielleicht) vorstel- len können, dass sie gar keine klare Vorstellung davon haben, ob sie eher im Ausland bleiben oder zurück in ihr Heimatland gehen möchten. Und auch von den Übrigen glaubt nur etwa die Hälfte, sie würde eher zurück nach Hause gehen (30,4 %) – die andere Hälfte glaubt, sie würde im Ausland bleiben (30,4 %). Zudem fragten wir die Teilnehmer nach ihrer Erwartung, ob sie nach der SIE eher im gleichen Unternehmen bleiben oder in ein anderes Unternehmen wechseln würden. Diese Frage kann fast die Hälfte der Teilnehmer (46,8 %) nicht beantworten. Von den Übrigen denken etwas mehr, sie würden im gleichen Unternehmen bleiben (30,4 %), die Übrigen – immerhin ein Fünftel (22,8 %) – denken, sie würden eher in ein anderes Unternehmen wechseln. Viele der Teilnehmer unserer Studie erwarten für ihre Karri- ere nach der SIE also gemäß der Idee der „grenzenlosen Karri- ere“ (Sullivan/Arthur, 2006) weitere Grenzüberschreitungen, und zwar sowohl die Überschreitung nationaler Grenzen als auch die von Unternehmensgrenzen. Unsere Studie zeigt aber, dass unter den teilnehmenden Absolventen viele noch unentschlossen sind, wie und wo ihre Karriere insgesamt wei- tergehen könnte. Wenn Unternehmen die Erwartungen und Bedenken der Kandidaten ernst nehmen und ihnen auch inner- halb des Unternehmens Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Grenzüberschreitung bieten (z. B. durch einen Wechsel über Funktionsgrenzen hinweg, durch die Einbindung in in- ternationale oder interdisziplinäre Projekte, durch das Ange- bot weiterer Auslandsaufenthalte), haben Unternehmen die 6 Dieser Test wird dem t-Test für zwei unabhängige Stichproben bevorzugt, da die Verteilungen nicht normalverteilt sind. 7 Da der Mann-Whitney-U-Test auf die Mediane der Stichproben zurückgreift, nicht auf die Mittelwerte, werden hier die Mediane angegeben.
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==