Personal Quarterly 1/2021
PERSONALquarterly 01/21 52 NEUE FORSCHUNG _ENTSENDUNG Zur Beschreibung des Phänomens der selbstinitiierten Ent- sendung wurden zunächst verschiedene Begriffe verwendet. 2 Seit 2009 hat sich die Bezeichnung „selbstinitiierte Entsendung“ (engl. „self-initiated expatriation“) durchgesetzt. Der Begriff er- schien aus zweierlei Gründen am passendsten: Erstens grenzt die Bezeichnung „self-initiated“ die Kandidaten von denjeni- gen ab, die vom Unternehmen entsandt werden. Der Terminus „Expatriate“ unterscheidet die Kandidaten zweitens als zeitlich begrenzte Entsandte von denjenigen, die mit dem Ziel ins Aus- land gehen, dort permanent zu bleiben (den „Migranten“). Cer- din/Selmer (2014) heben neben der Selbstinitiierung und der zeitlichen Begrenzung als weitere Definitionskriterien hervor, dass SIEs eine reguläre Arbeit im Ausland anstreben und über besondere berufliche Qualifikationen verfügen. Seit der ersten Beschreibung der SIEs in den 90er-Jahren (Inkson et al., 1997) hat das Thema zunehmend Beachtung in der wissenschaftlichen Diskussion gefunden. Farcas/Gon- çalves (2016) fanden für ihr Review insgesamt 94 Artikel (pu- bliziert 1997-2014, davon 45 publiziert 2012-2014). Insgesamt zeigt die Forschung, dass sich SIEs vor allem zwischen In- dustrienationen (z. B. Neuseeland, Australien, Großbritannien, Kanada, Finnland, Deutschland) beobachten lassen (Doherty, 2013, S. 448; Farcas/Gonçalves, 2016, S. 3), gefolgt von SIEs von Entwicklungsländern in Industrienationen. Was sind typische Situationen, in denen sich Kandidaten für eine SIE entscheiden? Wenn Arbeitskräfte noch relativ jung oder gar Berufseinsteiger sind, bekommen sie häufig (noch) keine unternehmensorganisierte Auslandsentsendung ange- boten. 3 Wenn Arbeitskräfte Partner haben, die für eine Tätig- keit ins Ausland entsandt werden, suchen sie häufig selbst auch einen Job an diesem Standort. Wenn Kandidaten an einen ganz spezifischen Ort gehen möchten und vom eigenen Unter- nehmen keine Entsendung an diesen Ort angeboten bekom- men, ist die SIE eine Option. Primäre Motivationsfaktoren sind für SIEs gemäß ver- schiedener Studien eine individuelle Abenteuerlust und Entdeckungslust, Neugierde, der Wunsch, andere Kulturen kennenzulernen, aber auch zu einem gewissen Grad der Wunsch der Karriereentwicklung, ökonomische Faktoren und ein besseres Einkommen, manchmal eine Flucht vor der aktuellen Lebenssituation (für einen Überblick vgl. Doherty/ Richardson/Thorn, 2013, S. 100). Es zeigen sich durchaus Unterschiede je nach Geschlecht, Familienstand, Nationalität, Lebensphase und bisheriger Auslandserfahrung (vgl. Farcas/ Gonçalves, 2016). Für Unternehmen herausfordernd ist, dass SIEs persönliche Motivationen meist stärker gewichten als be- rufliche Motivationen (Doherty, 2013, S. 451). Persönlichkeitseigenschaften, Erfahrungshintergründe und Karriereperspektiven Das Profil von SIEs unterscheidet sich in verschiedener Hin- sicht von dem klassischer Expats. Die Forschung konnte einige typische Persönlichkeitseigenschaften von SIEs iden- tifizieren: ausgeprägtes Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Individualismus, Nonkon- formismus, Selbstbestimmung, proaktive Herangehensweise und persönliche Tatkraft (Inkson et al., 1997; Sullivan/Arthur, 2006). Diese Charakteristika machen SIEs für Unternehmen zu wertvollen Mitarbeitern, die einen Auslandsaufenthalt ten- denziell sehr gut bewältigen. Einige Studien haben gezeigt, dass sich SIEs leichter an die Gastkultur anpassen und ge- ringere interkulturelle Integrationsprobleme haben (Doherty, 2013, S. 452; Farcas/Gonçalves, 2016, S. 4). Studien zeigen auch, dass SIEs eher bereit sind, länger in der Gastkultur zu bleiben (Doherty, 2013, S. 452), was für Unternehmen ange- sichts der sinkenden Bereitschaft von Managern zur Entsen- dung und insbesondere zur Langzeitentsendung 4 ebenfalls von Vorteil sein kann. Hinzu kommen weitere Vorteile von SIEs für Unternehmen: Häufig bewerben sich SIEs auf einen Job bei einer Auslandsnie- derlassung eines Unternehmens des eigenen Heimatlands. Die- se SIEs können für Unternehmen eine wichtige Funktion beim Aufbau von Vertrauen zu lokalen Niederlassungen und bei der Entwicklung einer engeren Bindung zwischen Auslandsstand- ort und Mutterunternehmen übernehmen. Schließlich ist das Unternehmen nicht verantwortlich für die Reintegration der Kandidaten im Heimatland. Die Grundherausforderung der Reintegration bei klassischen Expats besteht darin, nach der Entsendung einen angemessenen Job zu finden, bei dem der Rückkehrer seine Erfahrungen nutzen kann und der zugleich einen beruflichen Aufstieg darstellt. Darüber hinaus stellt sich die berufliche, soziale und kulturelle Reintegration häufig als schwierig heraus. Aus den typischen Persönlichkeitseigenschaften des SIE erge- ben sich allerdings auch Herausforderungen für die Integration (Nonkonformismus) und langfristige Bindung (Individualismus, Selbstbestimmung) der Kandidaten. Daher sind SIEs aus Un- ternehmensperspektive durchaus auch eine herausfordernde und risikoreiche Ressource (Mayrhofer/Sparrow/Zimmermann, 2008). Zur Erklärung dieser Herausforderungen lässt sich die Theorie der „grenzenlosen Karriere“ (Sullivan/Arthur, 2006) heranziehen, nach welcher Karrieren zunehmend nicht mehr innerhalb einer Organisation verlaufen („organisationale Karri- ere“), sondern vielmehr über Unternehmensgrenzen – und eben- so nationale Grenzen, funktionale Grenzen, Industriegrenzen 2 Z.B. „overseas experience“, „self-selecting expatriates“, „self-initiated international work opportuni ties“ und „self-initiated foreign (work) experience“. 3 Einige Studien deuten darauf hin, dass SIEs typischerweise etwas jünger sind als vom Unternehmen entsandte Mitarbeiter (Doherty, 2013, S. 454). 4 Im aktuellsten Global Mobility Trend Survey gaben immerhin 15 % der Unternehmen an, dass die Zahl der Kandidaten, die ein Entsendungsangebot ablehnen, innerhalb der letzten zwei Jahre gestiegen ist (Brookfield, 2016). 5 Die Befragung wurde an der Hochschule Reutlingen und der Hochschule Worms durchgeführt. Beide Hochschulen sind sehr international ausgerichtet. Fast alle Studierenden absolvieren mindestens ein Auslandsstudiensemester und/oder Auslandspraktikum, und die angebotenen Studiengänge zielen auf eine Vorbereitung der Studierenden auf internationale Karrieren ab.
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