Personal Quarterly 1/2021
PERSONALquarterly 01/21 50 NEUE FORSCHUNG _ENTSENDUNG D ie Rekrutierung und Bindung international orien- tierter Talente ist für global agierende Unternehmen eine Herausforderung. Das Phänomen der „selbst- initiierten Entsendung“ (SIE 1 ) bietet ihnen neue Möglichkeiten. Mit dem Begriff werden berufliche Auslands aufenthalte bezeichnet, bei denen die Kandidaten imGegensatz zum klassischen Auslandsentsandten (dem klassischen Expat) nicht von einem Unternehmen entsandt werden, sondern sich selbst entscheiden, sich im Ausland für einen Job zu bewerben (z. B. Cerdin/Selmer, 2014; Doherty, 2013; Doherty/Richard- son/Thorn, 2013; Farcas/Gonçalves, 2016). Häufig suchen sie dabei einen Job bei einem Tochterunternehmen oder einer Auslandsniederlassung eines Unternehmens des eigenen Hei- matlandes. Es gibt zunehmend Fälle, bei denen die Entsandten einen gewissen Grad organisatorischer Unterstützung durch ihren neuen Arbeitgeber erhalten. Für internationale Unternehmen und nationale Arbeits märkte stellen SIEs eine wertvolle Ressource dar (z. B. Collings/ Scullion/Morley, 2007). Sie können zwar klassische Expats nicht grundsätzlich ersetzen und unterscheiden sich häufig auch in ihren Profilen und Karriereambitionen. Für einige Po- sitionen stellen SIEs aber eine gute Alternative dar. SIE-Kan- didaten sind zu einem längeren Aufenthalt im Ausland bereit, ohne dass für das Unternehmen der übliche hohe Aufwand und die hohen Kosten einer Auslandsentsendung entstehen (für Umzug, finanzielle Zulagen, Vorbereitung, ggf. Unterstützung der Familie). Ihr Potenzial begründet sich zudem darin, dass SIEs ein hohes Maß an Eigeninitiative aufweisen (Andresen et al., 2020) und intrinsisch motiviert sind, ins Ausland zu gehen (Farcas/Gonçalves, 2016, S. 11), was auch die Integration im Gastland unterstützt (Doherty 2013, S. 452; Farcas/Gonçalves, 2016, S. 4). Allerdings stellen die Persönlichkeiten und Karri- ereperspektiven von SIE-Kandidaten für Unternehmen auch eine Herausforderung dar – insbesondere im Hinblick auf die Integration und langfristige Bindung der Kandidaten. Ein spezifisches Potenzial bieten SIE-Kandidaten, die sich aus der Gruppe der Hochschulabsolventen rekrutieren. Viele Hochschulabgänger haben heute bereits bei Studienabschluss Die selbstinitiierte Auslandsentsendung: Potenzial für Unternehmen Von Prof. Dr. Julia Hormuth und Prof. Dr. Marlene Ferencz (Hochschule Reutlingen) ein internationales Profil. Sie haben Studiensemester im Aus- land verbracht, internationale Praktika absolviert, in interna- tionalen Studierendengruppen gearbeitet, mehrere Sprachen gelernt oder internationale Doppelabschlüsse gemacht. Es liegt nahe, dass es für einige dieser Absolventen eine Opti- on ist, sich direkt nach dem Studienabschluss für einen Job im Ausland zu bewerben. Dieser Zeitpunkt birgt für eine Auslandsentsendung verschiedene Vorteile: Hochschulabsol- venten sind meist noch relativ flexibel – keine Familie, keine Kinder, kein Eigenheim. Damit Unternehmen das Potenzial von Hochschulabsol- venten als SIE-Kandidaten nutzen können, müssen sie poten- zielle Kandidaten im Wettbewerb der Unternehmen für sich gewinnen und an sich binden. Dazu kann es hilfreich sein, den SIEs eine gewisse Unterstützung anzubieten. Solche Unterstüt- zungsangebote können Unternehmen gezielter wählen, wenn sie die Motivationen, Bedenken und Karriereerwartungen der Hochschulabsolventen kennen. Hieraus leiten sich die For- schungsfragen unserer Studie ab: (a) Welche Motivationsfaktoren bewegen Hochschulabsol- venten dazu, eine SIE als Option zu betrachten, und mit welchen Argumenten können Unternehmen potenzielle Kandidaten gewinnen? (b) Welche Bedenken haben die Kandidaten, und durch welche Unterstützungsmaßnahmen können Unternehmen auch die Unschlüssigen überzeugen? (c) Welche Karriereerwartungen verfolgen Absolventen im Zusammenhang mit einer SIE, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die langfristige Personalbindung? Sowohl Motivationen als auch Karrierekonzepte von SIEs waren bereits Gegenstand bisheriger Forschung (vgl. Doherty, Richard- son/Thorn, 2013, S. 100 zu Motivationen; z. B. Crowley-Henry, 2012, zu Karrierekonzepten). Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Frage, ob sich bei den Hochschulabsolventen spezi- fische Motivationen und Karriereerwartungen zeigen. Im Gegen- satz dazu wurden potenzielle Bedenken oder Hinderungsgründe, die die SIE zur Herausforderung werden lassen, bisher kaum in den Blick genommen. 1 Die Abkürzung „SIE“ wird in diesem Artikel sowohl für die „selbstinitiierte Entsendung“ als auch für die Kandidaten, das heißt die „selbstinitiierten Entsandten“, verwendet.
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