Personal Quarterly 1/2021

15 01/21 PERSONALquarterly wurde (z. B. Chemikalien, Reagenzien etc.). Laborausstattung, Maschinen, Tests und Assays unterliegen schnellem technolo- gischem Wandel und sind der Grund dafür, dass Laboranten sich ständig weiterbilden müssen, um mit diesen Werkzeugen zu arbeiten. Unsere Beobachtungen zeigen, dass Forscher in der neuen Arbeitsumgebung viele Konversationen aufgrund unbekannter Techniken und Geräte auslösten. Ein Laborant erklärte: „Du kommst zufällig an jemandem vorbei und sagst: Du machst diese Art von Experiment. Und er wird dir sagen: Das macht das und dies macht dies. Das ist mittlerweile meine Hauptinformationsquelle.“ Im Gegensatz dazu bemerkte ein Gruppenleiter: „Hier [im Multi Space] erhalte ich nicht mei- ne Informationen, sondern eher in unseren Projektmeetings.“ Aufgrund der Hauptaufgaben eines Gruppenleiters (das heißt Führung und Strategie) sind für sie formale Meetings weiterhin sehr zentral. Die meisten Interviewpartner, vor allem Labo- ranten, schätzten die neue Umgebung und die daraus resul- tierenden Möglichkeiten, ihr persönliches Netzwerk und die eigene Expertise zu erweitern. Im dritten Teil der Studie hatte sich dieser Effekt etwas abgeflacht: Die Ausstattung und die Materialien, die kurz nach dem Umzug noch neugierig mach- ten, waren nach zwei Jahren alltäglich geworden und lösten nun nicht mehr so viele Konversationen aus. Für die Lokali- sierung von Expertise war nach zwei Jahren die Visibilität der Kollegen weitaus wichtiger als die der Objekte. Diskussion und Schlussfolgerungen Durch die Erweiterung der quantitativen Kommunikations- untersuchung durch qualitative Daten über Kommunikations- partner und -inhalte beleuchtet die vorliegende Studie einige weniger erforschte Effekte, die offenere Arbeitsumgebungen auf Kommunikationsmuster speziell in F&E und wissensinten- siven Bereichen haben können: Zum einen zeigen die Ergebnisse, dass der Umzug von einer geschlossenen zu einer offeneren Multi-Space-Arbeitsumge- bung die Kommunikationsaktivitäten signifikant von innerhalb der Berichtslinie auf innerhalb der Hierarchieebene verschiebt. Dass die durch den Raum induzierten Kommunikationsverän- derungen zu einem indirekten Abflachen der Hierarchie führen würden, war ein unerwartetes Ergebnis. In Entwicklungsab- teilungen von Großindustrien hat sich ein Abflachen der hie- rarchischen Kommunikation als vorteilhaft erwiesen, wurde aber gewöhnlich durch ein Eingreifen des Managements in die strukturelle Organisation, bspw. durch Reduzierung der Hierar- chieebenen, ausgelöst (Womack/Jones, 2003). Erstaunlicherweise ist das erhöhte Diskussionsaufkommen nicht im offenen, integrierten Nasslabor zu finden, dem ei- gentlichen Hauptarbeitsplatz der unteren Hierarchieebene, sondern verschiebt sich in die Bürozone – dort, wo Daten auf Bildschirmen visualisiert werden können. Die jüngeren Forscher profitieren nicht nur von der Interdisziplinarität, sondern auch von der Visibilität, die der offene Raum bietet: Alleine durch das Beobachten der Kollegen bei der Nutzung experimenteller Ausstattung, der Diskussion am Bildschirm oder durch das Mithören von Gesprächen ist ein Lerneffekt möglich (Fried et al., 2001). Vor allem die qualitativen Daten zeigen, dass die offenere Arbeitsumgebung das Lokalisieren von Expertise, das Koordi- nieren von Aktivitäten, aber auch das Verständnis des gesam- ten Arbeitsvorgangs erleichterte. Zwei Jahre nach dem Umzug hatten sich die meisten Forscher eine implizite „Expertise Map“ (das heißt, wer ist wer, wer macht was mit wem und welchen Objekten) aufgebaut. Damit nahm die Wichtigkeit phy- sischer Objekte ab und die Visibilität von Schlüsselpersonen (z. B. die mit Erfahrung und mit vielen Ideen) wurde wichtiger. Dies zeigt, dass der Auswahl und Platzierung von Schlüssel- personen in der F&E eine größere Bedeutung zugeschrieben werden sollte als der Minimierung der physischen Distanz zum nächstbesten Kollegen (Dolfsma/Van der Eijk, 2016). Durch das longitudinale Studiendesign ist es möglich, den Verlauf der Effekte über einen längeren Zeitraum darzustellen. Die Empfindung von Vor- (z. B. interdisziplinärer Wissensaus- tausch) als auch Nachteilen (z. B. Unterbrechungen) einer offe- nen Multi-Space-Arbeitsumgebung scheinen direkt nach dem Umzug ihren Höhepunkt zu erreichen und flachen im Verlauf der Zeit ab. Der Grund hierfür wird meist durch die Gewöh- nung an das Neue beschrieben. Inhaltlich veränderten sich die Konversationen durch die offenere Arbeitsumgebung dahingehend, dass soziale Un- terhaltungen von Labor- und Arbeitstischen weitgehend ver­ schwanden und zu anderen Bereichen imMulti Space umzogen, wie z. B. in Kaffee-Ecken oder Meetingzonen. Dieses Ergebnis kann dem Beobachtungseffekt der Studie geschuldet sein oder darauf hinweisen, dass offenere Raumaufteilungen generell die Wahrnehmung von sozialen Anforderungen erhöhen (z. B. durch unkooperatives Verhalten und Vertrauensverlust) und damit Freundschaften am Arbeitsplatz verringern (Morrison/ Macky, 2017). Praxisimplikationen Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind vor dem Hinter- grund der momentanen Entwicklung von Homeoffices als Fol- ge der Covid-19-Pandemie für die F&E-Abteilung relevant. Das Ergebnis, dass durch offenere Arbeitsumgebungen Hie­ rarchien abflachen und dadurch vor allem jüngere Forscher durch erhöhten interdisziplinären Austausch und das „Beob­ achten“ von erfahrenen Kollegen und ihren Objekten profitie- ren, hat Implikationen für die momentane Praxis: Vor allem jüngeren Forschern sollte empfohlen werden, flexibel, aber re- gelmäßig vor Ort zu arbeiten, um sich mit anderen Disziplinen auszutauschen und durch Beobachten und Mithören zu lernen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass der Kontakt zur

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==