Personal Quarterly 2/2021

58 SERVICE _EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND PERSONALquarterly 02 / 21 W ie körperlich aktiv waren Sie heute? Und wie viel körperliche Aktivität absolvierten Sie in der vergangenen Woche? Machen wir es noch eine Nummer komplizierter: Wie viel dieser Zeit wa- ren Sie mit moderater Intensität aktiv und wie viel mit hoher Intensität? Ziemlich schwierige Fragen, oder? Die Befragung zählt seit Jahrzehnten zu den meistgenutzten Methoden der quantitativen Forschung. Sie ermöglicht es, eine große Menge an Informationen verhältnismäßig schnell und kostengünstig zu erhalten. Fragebögen können individuell ge- staltet und tausendfach gedruckt werden. Digitalisiert sind sie darüber hinaus quasi unendlich oft verfügbar. Die Software kann während des Ausfüllens bereits direkt die Daten prüfen und zum Beispiel auf Eingabefehler oder ausgelassene Fragen hinweisen. Die Gedächtnisleistung von Menschen ist begrenzt Doch wie schon die Einleitung zeigt, bringt die Anwendung von Fragebögen auch eine Kehrseite mit sich. Um es genau- er zu formulieren, eigentlich ist nicht der Fragebogen der Schwachpunkt der Forschung, sondern der oder die Befragte. Als Mensch ist unsere Gedächtnisleistung nun mal begrenzt. Klar fällt es dem einen leichter als dem anderen, sich an ge- wisse Dinge zu erinnern. Auf die Minute genau anzugeben, wie körperlich aktiv man vergangene Woche oder erst recht vergangenen Monat war, dürfte jedoch jedem von uns schwer- fallen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass körperliche Aktivi- tät nicht immer en bloc auftritt, sie verteilt sich vielmehr auf einige Aktivitätsphasen über den Tag hinweg. Wird nach der Aktivität während einer Woche gefragt, müssen daher in der Regel mehrere hundert unterschiedlich lang dauernde Aktivi- tätsphasen berücksichtigt werden. Da werden den Befragten nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern zusätzlich auch noch gute mathematische Fähigkeiten abverlangt. In der Regel ist es so, dass strukturierte und intensive kör- perliche Anstrengungen, wie beispielsweise eine regelmäßige sportliche Betätigung im Verein, besser erinnert werden kön- nen. Doch auch hier lauern Gefahren: Die meisten würden wahrscheinlich nach einem Fußballspiel angeben, dass sie 90 Minuten Sport gemacht haben. Studien zeigen jedoch, dass die meisten Fußballer während eines Spiels gerade einmal 60 Minuten körperlich aktiv sind. Die übrigen 30 Minuten kommen durch Unterbrechungen im Spiel wie Einwürfe oder Verletzungspausen zustande, was Malte Siegle und Martin Lames schon 2012 unter dem Titel „Game interruptions in eli- te soccer“ im „Journal of Sports Sciences“ präzise analysierten. Darüber hinaus werden vermutlich sowohl Torwart als auch Mittelfeldspieler die gleiche Aktivitätsdauer angeben, obwohl die Ausprägung der körperlichen Aktivität bei beiden sehr un- terschiedlich ausfällt. Eine letzte Fehlerquelle, die ich hier anführen möchte, ist die in subjektiven Erhebungsmethoden immer wieder auftretende soziale Erwünschtheit. Sie führt dazu, dass Personen in Befra- gungen dazu neigen, Antworten zu geben, von denen sie er- warten, dass sie sozial eher akzeptiert oder erwünscht sind. Im Falle der körperlichen Aktivität zeigen mehrere Studien – un- ter anderem „The effect of social desirability and social appro- val on self-reports of physical activity“ von Swann Arp Adams und Kollegen, 2005 veröffentlicht im „American Journal of Epi- demiology“ –, dass die soziale Erwünschtheit in Fragebögen zu einer Überschätzung der Aktivitätsdauer der Befragten führt. Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl an möglichen Einfluss- faktoren wundert es nicht, dass Befragungsdaten in der Regel mit einem geringen Maß an Präzision einhergehen. Technische Messinstrumente bilden nur einige Aspekte ab Trotz der diversen Kritikpunkte haben Fragebögen dennoch ihre Daseinsberechtigung. Das Verhalten der Menschen ist komplex und setzt sich aus vielen unterschiedlichen Fakto- ren zusammen. Neben Dauer, Intensität und Art der Bewe- gung möchte man beispielsweise auch den sozialen Kontext eruieren. Denn es ist bekannt, dass sich körperliche Aktivität während der Arbeit und in der Freizeit unterschiedlich auf die Gesundheit auswirken, was Rhiannon Lee White und Kollegen 2017 treffend in der Metaanalyse „Domain-Specific Physical Activity and Mental Health“ im „American Journal of Preven- tive Medicine“ beschrieben. Bislang gibt es keine technischen Messinstrumente, die in der Lage sind, all diese Aspekte um- fassend und präzise abzubilden. Somit muss notgedrungen auf Fragebogendaten zurückgegriffen werden. Allerdings soll- te man sich bei der Interpretation der Daten der genannten Schwierigkeiten bewusst sein und die Schlussfolgerungen nicht absolut stellen oder sie gar überhöhen, sondern man muss sie wissenschaftlich einordnen. Fragebogendaten mit Vorsicht begegnen Prof. Dr. Ingo Froböse leitet das Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln. Der Wissenschaftler skizziert die ungewisse Evidenz von Fragebögen am Beispiel körperlicher Aktivität.

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