PERSONALquarterly 3/2020

PERSONALquarterly 03/20 54 SERVICE _EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND U m die Entwicklung von Pandemien abzuschätzen, spielen drei Faktoren eine Rolle: erstens, wie viele Menschen eine infizierte Person typischerweise ansteckt. Diese Zahl hängt nicht nur vom Virus ab, sondern auch von unserem Kontaktverhalten. Zweitens die Generationszeit, also wie lange eine infizierte Person anste­ ckend ist. Aus der Generationszeit und der Zahl der innerhalb dieser Zeit angesteckten Personen ergibt sich die Reproduk­ tionszahl R. Drittens, ob nach überstandener Infektion eine Immunität eintritt. Für Corona zeichneten die Daten zu Beginn ein alarmie­ rendes Bild: Die registrierten Fallzahlen stiegen derart stark an, dass die ungebremste Entwicklung der Infektion selbst im bestmöglichen Szenario die Kapazitäten der Gesundheits­ versorgung überfordert hätte. Solange es also keinen Impf­ stoff gibt, wird die Reproduktionszahl zur entscheidenden Stellschraube jeder Abwehrstrategie. Sobald R auf den Wert 1 sinkt, stabilisiert sich die Anzahl der Neuinfektionen; fällt R darunter, geht die Anzahl zurück. Hohe Dunkelziffer bei tatsächlich Infizierten Doch Infektionskrankheiten weisen zwischen Ansteckung und der Ausprägung von Symptomen üblicherweise eine Inkubationszeit auf, sodass man die Infizierten ohne umfas­ sendes Testen nicht frühzeitig erkennen und isolieren kann. Gleichzeitig wird die Wirksamkeit von Maßnahmen, die heu­ te eingeleitet werden, erst in einigen Tagen oder gar Wochen in den Daten sichtbar, selbst wenn sie sofort die angestrebte Wirkung entfalten. Zugleich hat bis heute die Zahl der regis­ trierten Infizierten nur bedingt etwas mit der Zahl der tatsäch­ lichen Infizierten zu tun, weil Menschen mit wenigen oder gar keinen Symptomen kaum getestet werden. Bleibt diese Dun­ kelziffer unberücksichtigt, wird die geschätzte Letalität – also der Anteil der Todesfälle an allen neu Infizierten – systema­ tisch überschätzt. Allerdings gibt es ein natürliches Experiment, das Kreuz­ fahrtschiff „Diamond Princess“, bei dem alle Passagiere getes­ tet wurden. Zwar ist die Besatzung eines Kreuzfahrtschiffs älter als die Durchschnittsbevölkerung, aber dies können Sta­ tistiker näherungsweise herausrechnen. Aus den Daten ergab sich eine geschätzte Covid-19-Letalität von 0,5 Prozent – mit einer Unsicherheit von etwa +/- 50 Prozent. Eine neuere Studie der Universität Stanford zu Covid-19 im Santa Clara County kam zu einer geringeren Letalität, die aber zum Teil auf eine Selbstselektion der Teilnehmer zurückzuführen sein dürfte. Modellrechnungen korrigieren die Letalität auf etwa 0,25 bis 0,5 Prozent. Dies wäre ein konsistentes Ergebnis mit Blick auf die Heinsberg-Studie, die in ihrer finalen Fassung eine Letalität von 0,33 bis 0,52 Prozent angibt, und auf die Schätzungen des Virologen Christian Drosten. Er vermutete bereits frühzeitig die Letalität im Bereich von 0,3 bis 0,7 Prozent. Repräsentative Panelstichprobe regelmäßig testen Inzwischen ist die Reproduktionszahl R als zentrale Entschei­ dungsgröße in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Ihre Berechnung beruht auf einigen Annahmen und ist daher mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet. Zuerst braucht es eine Annahme über die oben beschriebene Genera­ tionszeit. Aktuell rechnet das RKI mit vier Tagen. Dann ergibt sich R als Quotient der Neuinfektionen des aktuellen und der vorangegangenen drei Tage und der Summe der Neuinfektio­ nen der vier Tage zuvor. Für diese Berechnungen nutzt das RKI ein statistisches Ver­ fahren (Nowcast genannt), ummögliche Verzögerungen bei der Diagnose, der Meldung und der Übermittlung der Anzahl der Neuerkrankungen zu berücksichtigen. Dabei schwankte der Nowcast für den 1. April zwischen rund 3.000 und fast 6.000 neuen Fällen – je nachdem, zu welchem Zeitpunkt er ermittelt wurde. In der öffentlichen Diskussion blieb auch weitgehend unberücksichtigt, dass das RKI am 9. April das 95-prozentige Konfidenzintervall von R auf den Bereich von 0,8 bis 1,1 be­ ziffert hat. Das heißt, es ist nicht einmal gesichert, ob sich die Infektionswelle zu diesem Zeitpunkt weiter ausbreitete oder zurückging. Kleine Veränderungen von R um Differenzwerte von 0,1 bis 0,2 liegen also im Bereich des Schätzfehlers. Vor allem eignet sich die Reproduktionszahl aufgrund der nach wie vor mangelhaften Datengrundlage nicht als zentrale oder gar einzige Entscheidungsgrundlage für die Frage, ob Kontaktbeschränkungen gelockert werden können. Nur eine hinreichend groß angelegte, repräsentative Panelstichprobe von Personen, die sich regelmäßig in kurzer Frequenz einem Test unterziehen, kann das zentrale Problem der mangelnden Kenntnis der Dunkelziffer und damit der wahren Ansteckungs­ gefahr lösen. Corona-Forschung auf dem Prüfstand Katharina Schüller, Gründerin und Geschäftsführerin von Stat-up, einem Anbieter für Statistische Beratung und Data Science in München, www.unstatistik.de

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