PERSONAL quarterly 1/2020

8 SCHWERPUNKT _INTERVIEW PERSONALquarterly 01/20 Theo Wehner: Die sozialwissenschaftliche Freiwilligenforschung ist in der Tat geprägt von quantitativen, repräsentativen Stu- dien zumeist mit standardisierten Erhebungsinstrumenten zum Verständnis der Phänomene und Prozesse in den Be- reichen Einstellung und Überzeugung, soziale Kognition, soziale Beziehungen und Persönlichkeit. Erfahrungen und Lebensgeschichten der freiwilligen Akteure, individuelle Sinnstrukturen, Vereinbarkeit und Konflikte mit anderen Tä- tigkeitsformen oder gar Zweifel und Enttäuschungen werden hierbei nicht hinreichend berücksichtigt. Auch wenn die Re- aktanz der Freiwilligen gegenüber den Fragebogenstudien äu- ßerst gering und die Rücklaufquoten hoch bis sehr hoch sind, fehlt es an Methoden aus der qualitativen Sozialforschung. Hier bieten sich sowohl biografische als auch narrative In- terviews an, was noch bereitwilliger von den Auskunftsper- sonen unterstützt wird. Mit großem Gewinn haben wir auch mit strukturanalytischen Verfahren gearbeitet. Das narrative Grid-Interview fragt nach persönlichen Erfahrungen und er- hebt gezielt persönliche Konstrukte, die der Einordnung und Bewertung der Erfahrungen dienen. Mit dieser Methode ist es möglich, Tätigkeiten nicht durch theoretisch vorgegebene, sondern durch die subjektiven Kategorien der Interviewpart- ner direkt vergleichen zu lassen. PERSONALquarterly: Was sind die wesentlichen Fehler, die im Per- sonalmanagement der Freiwilligenarbeit gemacht werden und die zu einer Verringerung des Engagements oder gar zu einem Rückzug der Freiwilligen führen? Theo Wehner: Dass sich die Schwächen im Non-Profit-Manage- ment wesentlich von jenen in der Privatwirtschaft unter- scheiden, würde ich bezweifeln; wobei ich es ohnehin für sinnvoller erachte, mit den Verantwortlichen und Freiwilli- genkoordinatorInnen an deren Stärken zu arbeiten – derer gibt es reichlich. Aufgefallen ist uns dennoch immer wieder, dass eine geringe bis fehlende Konfliktwahrnehmungskom- petenz herrscht: Es wird übersehen, welche Wertschätzung die Freiwilligen erwarten, und so gerät man mit mancher Anerkennung eher in einen Konflikt, weil der Non-Profit- Organisation bspw. eine Bindungsabsicht unterstellt und da- mit die Autonomie der Freiwilligen gefährdet wird. Ebenfalls übersehen wird, dass Freiwillige keine billigen Arbeitskräfte, womöglich für Resttätigkeiten, sind und dass sie sich durch bürokratischen und administrativen Aufwand in ihrem En- gagement missverstanden fühlen. Ferner und nicht zuletzt bleibt die Abgrenzung zu den hauptberuflichen Kräften häu- fig dem Selbstlauf überlassen – ein weiteres unbearbeitetes Konfliktfeld. Das Nebeneinander von freiwilliger Arbeit mit bezahlter bzw. professionalisierter Arbeit schafft in vielen Organisationskontexten ein Spannungsverhältnis, in dem freiwillige Arbeit leicht unter Rechtfertigungsdruck geraten kann (Graeff/Weiffen, 2001). PERSONALquarterly: Freiwilligenarbeit ist von einer zunehmenden Professionalisierung betroffen. Wo sehen Sie Risiken dieser Entwicklung? Theo Wehner: Es sind, ausgelöst von den Non-Profit-Organisa- tionen, nicht nur die Professionalisierungsbestrebungen, sondern auch eine zunehmende Managementisierung und Verwerkzeugung der Freiwilligenarbeit, die bürgerschaft- liches Engagement gefährden. Die Zivilgesellschaft braucht Freiräume, auch um neue Engagementfelder zu finden und diese dann nicht durch Profis, sondern durch engagierte Laien zu erkunden und zu erproben. Dazu braucht es Mut der Freiwilligen, Kontrollverzicht des Staats sowie der Organi- sationen und Fehlertoleranz von allen Seiten. Dazu braucht es unter Umständen für die Freiwilligen auch Bildungsangebote, Erfahrungsaustausch und Diskussionsforen. Was es hingegen nicht braucht, sind Auswahlverfahren, festgefügte Qualifikati- onsanforderungen, ausformulierte Aufgabenbeschreibungen, „Mitarbeitendengespräche“, Qualitätssicherung und womög- lich demnächst eine ISO-Norm zum Freiwilligeneinsatz. Versuche der Professionalisierung freiwilliger Arbeit bedro- hen die Bestrebungen bestehender, nicht vollständig professi- onalisierter Berufsgruppen, die sich mit den Freiwilligen in demselben Tätigkeitsfeld befinden. Dies gilt für Gesundheits-, Erziehungs- wie auch für Arbeitsbereiche in den Sozialberufen. Indikator hierfür ist die Diskussion um professionelle Identi- tät, welche gerade in diesen semiprofessionellen Berufsgrup- pen eine offene Frage ist. „Wer von der Freiwilligenarbeit spricht, der spricht immer auch von der jeweiligen Arbeits­ gesellschaft, in der sie ausge- übt wird.“ Prof. em. Dr. Theo Wehner

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==