PERSONALquarterly 4/2019

63 04/19 PERSONALquarterly daraus den Schluss, dass nonformal Gelerntes zertifizierte Ab- schlüsse braucht, um die individuellen Lebenschancen posi- tiv zu beeinflussen, weil „der Arbeitsmarkt in Deutschland so funktioniert“. Nur bei Berufen in der IT, im Journalismus oder im Ma- nagement, in denen es keine klassische Ausbildung gibt und Bildungsabschluss und Arbeitsalltag weniger verzahnt sind, können kleine informelle Zusatzkenntnisse einen Wert haben. Ansonsten gilt: Der Wert der Abschlüsse muss nachvollziehbar sein. Dazu seien zentrale Akkreditierungen nötig, eine Quali- tätskontrolle, die Standardisierung der Fähigkeiten sowie Refe- renzen der Lernprojekte. Ob sich die Ansprüche an Abschlüsse durch die Digitalisierung verändern, untersucht Martin Ehlert in einem EU-Projekt. Den wissenschaftlichen Kollegen in den Niederlanden, in Schweden, Italien, Großbritannien, Estland und eben in Deutschland geht es um die nationalen Unter- schiede bei der Weiterbildung im Erwachsenenalter. „Etwa die Hälfte der Erwerbstätigen bei uns machen überhaupt keine Weiterbildung“, sagt Ehlert, der erforschen will, wie man Ar- beitsplätze lernfördernd gestalten und das frühzeitige Ent­ lernen durch Routinetätigkeiten verhindern kann. Professor Andreas Rausch hat sich schon in seiner Disser- tationsschrift „Erleben und Lernen am Arbeitsplatz in der betrieblichen Ausbildung“ mit informellen Lerngelegenheiten beschäftigt. Denn reines Vorratslernen wird wegen des Ent- wicklungstempos in der Wirtschaft immer schwieriger. Der Lehrstuhlinhaber Wirtschaftspädagogik und Lernen im Ar- beitsprozess in der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim fand in diversen Befragungen he- raus, dass sich Menschen oft nicht bewusst sind, wenn sie ler- nen. „Am Arbeitsplatz zum Beispiel aus Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird nicht als Lernen erlebt“, erklärt der Forscher. Gemeinhin würden Aus- und Weiterbildung gedank- lich mit verschultem Lernen und Zertifikaten gleichgesetzt. In Feldforschungsprojekten mit angeleiteter Selbstbeobachtung versucht Rausch, validere Daten zum Lernort Arbeitsplatz zu erlangen. „Die stark vorstrukturierten Tagebücher ermöglichen prozessnahe Einblicke in verschiedenste Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz“, so der habilitierte Wirtschaftspädagoge. Untersuchungen zum Umfang der Lerngelegenheiten an ver- schiedenen Arbeitsplätzen verschiedener Branchen zeigen aber auch, dass beim informellen Lernen die Schere zwischen ohnehin gut Ausgebildeten und Geringqualifizierten im Laufe der Berufsjahre weiter auseinandergeht. „Geringqualifizierte sind oft mit monotonen Arbeiten betraut, die wiederum geringe Lernmöglichkeiten bieten“, so Andreas Rausch. Die Sozialpartner im Metallsektor und in der Chemie haben bereits Tarifverträge zur Weiterbildung abgeschlossen. So sol- len auch Geringqualifizierte die Chance auf Veränderung er- halten. Im Handwerk, wo in kleinen Teams gearbeitet wird und die Aufgabenbereiche oft sehr breit sind, sind die Bedingungen für das informelle Lernen am Arbeitsplatz günstiger. Aber die Spitzenplätze bei den Lerngelegenheiten belegen überwiegend akademische Berufe. Für den Forscher sind die Befunde zum Lernen am Arbeitsplatz noch zu wenig gesichert und die Hete- rogenität in einem Betrieb und erst recht betriebsübergreifend schränken die Übertragbarkeit der Erkenntnisse ein. Relevant werden neue Varianten der Kompetenzmessung zur Anerken- nung informell erworbener Kompetenzen. „Der Königsweg sind sehr praxisnahe Tests, aber die sind auch sehr aufwendig. Daher bleibt es oft bei Selbstberichten“, so der Hochschulleh- rer. Für Kaufleute hat er mit Kolleginnen und Kollegen bereits einen PC-basierten Test entwickelt. In einem aktuellen Projekt werden Bürosimulationen zur Kompetenzförderung und -diag­ nostik entwickelt. Schnellschüsse der Bildungsfachleute sind jedenfalls in diesem Themenfeld trotz Nationaler Weiterbildungsstrategie nicht zu erwarten – und auch nicht erstrebenswert. V. l. n. r.: Dr. Sarah Widany (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bonn), Martin Ehlert (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung), Professor Dr. Andreas Rausch (Universität Mannheim)

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