Controllermagazin 4/2020

49 Controller Magazin | Ausgabe 4 sowie die Aufwandstreiber hinterfragt werden. Hierbei kann beispielweise zur Erhöhung der Agilität der Supply Chain ein monatlicher S&OP-Rhythmus auf einen tem- porär wöchentlichen Zyklus umgestellt werden, um auf besonders dynamische Entwicklungen kurzfristig zu re- agieren. In Bezug auf das S&OP-Meeting sollte die Stan- dard-Agenda kritisch gewürdigt und auf die aktuelle Si- tuation maßgeschneidert angepasst werden. In diesem Zusammenhang kann es sinnvoll sein, ein sonst durch- aus sinnvolles Review von Planungsqualitäten in ver- schiedenen Prozessstufen und Dimensionen zu verkür- zen oder gar zu streichen und andererseits das Initiieren, Umsetzen und Nachhalten von Sofortmaßnahmen als Reaktion auf die Krisensituation mit in das Programm aufzunehmen. Das S&OP-Meeting sollte insbesondere in Zeiten von großer Unsicherheit als SCM-Plattform genutzt werden, um kurzfristige Sofortmaßnahmen am Tisch zu be- schließen und über die Meeting-Struktur in kurzen Inter- vallen nachzuhalten und voranzutreiben. Ein Auszug möglicher Sofortmaßnahmen, welche auch im S&OP- Meeting Berücksichtigung finden können, sind in den nächsten Punkten als Gedankenanstöße beschrieben. Stellen Sie die Ergebnisse mathe­ matischer Absatzprognosen infrage Viele Unternehmen habenmittlerweile IT-gestützte ma- thematische Prognoseverfahren im Einsatz. Diese Tools erkennen Muster, die in den Absatzverläufen einzelner Artikel oder Artikelgruppen in der Vergangenheit aufge- treten sind, z. B. einen Trend, einen Lebenszyklus oder eine Saisonalität, und schreiben diese Muster in die Zu- kunft fort. In Umbruchzeiten wie diesen sorgen aller- dings sogenannte Strukturbrüche dafür, dass die Ver- gangenheit nicht mehr einfach fortgeschrieben werden kann. Mit modernen Algorithmen ist eine gute Progno- sesoftware zwar durchaus in der Lage, auch mit Struk- turbrüchen umzugehen, allerdingsmüssen diese von der Software auch als solche erkennt werden. In der Konse- quenz sollten Sie daher die Ergebnisse mathematischer Prognosen in der aktuellen Situation kritisch hinterfra- gen und versuchen herauszubekommen, ob Struktur- brüche als solche erkannt und verarbeitet wurden. Sollte dies nicht der Fall ein, ist in den meisten Fällen eine tem- porär händische Absatzplanung durch den Vertrieb vor- zuziehen. Überprüfen Sie Ihr Bestandsmanagement bei Roh-, Hilfs- und Betriebsstof fen Ein etabliertes und in der Vergangenheit wohlmöglich auch zuverlässiges und bewährtes Bestandsmanage- ment von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen (RHB) sollte hinsichtlich einer eingetretenen Krisensituation unmit- telbar überprüft, hinterfragt und adaptiert werden. In diesem Zusammenhang gilt es, vormals vorgenommene Klassifizierungslogiken und -ergebnisse zu überarbeiten und insbesondere hieraus abgeleitete Maßnahmen und Sicherheitsbestände kurzfristig auf den Prüfstand zu stellen. Überarbeiten Sie die klassische ABC-Analyse nach der Verbrauchsmenge und erweitern Sie diese um eine zu- sätzliche sinnvolleDimension. Bei der vielfach angewand- ten Dimension der Vergangenheitsverbräuche sollte eine Überprüfung stattfinden, ob vergangene Verbrauchs- mengen noch zuverlässig herangezogen werden können oder ob die Klassifizierung besser auf Planverbrauchs- mengen umgestellt wird. Dies ist notwendig, wenn sich die Nachfrage nicht nur prozentual, sondern auch un- gleichmäßig über das Sortiment verändert. Eine zweite XYZ-Dimension kann beispielsweise nach Lieferfähigkeit der Materialien und entsprechenden Lieferanten geclus- tert werden, wobei ein X-Artikel sich durch eine hohe Lie- ferfähigkeit und ein Z-Artikel sich andererseits durch eine niedrige Lieferfähigkeit auszeichnet. Die Lieferfähigkeit sollte hierbei einmal die Termintreue sowie die Mengen- treue berücksichtigen. Im Ergebnis der zweidimensiona- len Bestandsklassifizierung ergeben sich neun Katego- rien, für welche sich auf die Krisensituation angepasste, unterschiedliche Bestandsstrategien und Maßnahmen sowie entsprechende Sicherheitsbestände ableiten lassen. Im Folgenden sind beispielhaft für drei der neun KategorienMaßnahmen beschrieben: AX-Material mit hohemVerbrauch und hoher Lieferfähigkeit Materialien in der AX-Kategorie mit hohem Verbrauch und einer hohen Bedeutung für die Produktion der zuge- hörigen Fertigwaren sollten auch bei hoher Lieferfähig- keit über moderate Sicherheitsbestände abgedeckt wer- den. Allgemein erscheinen Materialien dieser Kategorie vorerst wenig kritisch, sodass keine unmittelbaren So- fortnahmen notwendig sein müssen. Wichtig ist es je- doch, die aktuell hohe Lieferfähigkeit kontinuierlich zu beobachten und bei kleinsten Unregelmäßigkeiten auf eine Verschiebung in die AY- oder AZ-Kategorie gefasst zu sein. AKTUELL Summary COVID-19 ist ein beispielloser Einschnitt, der die Nachfrage- sowie Versorgungssituation in nahezu allen Branchen flächendeckend verändern wird. Dem Supply Chain Controlling kommt als dem Partner und Unterstützer des Supply Chain Managements eine wesent­ liche Funktion zu: Historisch gewachsene Prozesse und Abläufe sind zu hinterfragen, das- selbe gilt für Parameter und Systemeinstellungen, die sich zwar in der Vergangenheit bewährt haben, aber in dieser Krise zu falschen Entscheidungen führen. PROF. DR. MATTHIAS LÜTKE ENTRUP verantwortet als Partner der HÖVELER HOLZMANN CONSULTING GmbH, Düssel- dorf den Bereich Supply Chain Management und ist Professor für Operations Management und Control- ling an der International School of Management in Dortmund. luetkeentrup@ hoeveler-holzmann.com

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