Controller Magazin 9/10-2020
6 Controller Magazin | Ausgabe 5 RISIKOMANAGEMENT & RATING zit davon ausgegangen, dass Unternehmen sicher ewig existieren. Insolvenzstatistiken und Daten zum Erwar- tungswert der Lebensdauer von Unternehmen zeigen jedoch, dass dies offensichtlich nicht zutrifft. Es ist da- her ein oft schwerer Bewertungsfehler, wenn man bei der Bestimmung des Unternehmenswerts oder ande- ren wertorientierten Kennzahlen (speziell bei der Be- rechnung des Terminal Values der Fortführungsphase) unreflektiert eine ewige Existenz des Unternehmens annimmt. Die Lebensdauer eines Unternehmens ist zwar nicht begrenzt, hat aber dennoch einen endlichen Erwartungswert. Die erwartete Lebensdauer eines Un- ternehmens ergibt sich unmittelbar aus der Insolvenz- wahrscheinlichkeit. Die durch das Rating ausgedrückte Insolvenzwahrscheinlichkeit bestimmt den für die Be- wertung erforderlichen Erwartungswert der Erträge und Cash-flows sowie dessen langfristige zeitliche Ent- wicklung. Die Insolvenzwahrscheinlichkeit wirkt lang- fristig weitgehend wie eine „negative Wachstumsrate“ der erwarteten Erträge oder Cash-flows. Schon kleine Änderungen der Insolvenzwahrscheinlichkeit haben entsprechend erhebliche Auswirkungen auf den Unter- nehmenswert als Performancemaß und Entscheidungs- kriterium im wertorientierten Management. Auch die meist börsennotierten Unternehmen mit einem wert- orientierten Managementverständnis sollten entspre- chend diesen Werttreiber im Entscheidungskalkül be- trachten und als Controlling-Kennzahlenwert erfassen. Bewertungsrelevant ist dabei allerdings nicht (nur) die aktuelle Insolvenzwahrscheinlichkeit, sondern eine Pro- gnose der zukünftigen Entwicklung der Insolvenzwahr- scheinlichkeit, abhängig von dem gemäß Planung (1) zukünftig zu erwartenden Erträgen, (2) dem Risikode- ckungspotenzial (Eigenkapital- und Liquiditätsausstat- tung) sowie (3) den aggregierten Ertragsrisiken. 6 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass bei ei- nem realen unvollkommenen Markt die Insolvenzrisiken zudem die Anforderung an die erwartete Rendite eines Unternehmens, Geschäf tsbereichs oder Projekts (den Kapitalkostensatz) beeinflussen. 7 In vielen Unternehmen mit einer wertorientierten Steuerung wird die durch das Rating ausgedrückte In- solvenzwahrscheinlichkeit nicht nur bei der Beurtei- lung des Ertrag-Risiko-Profils für Handlungsoptionen bedeutend sein, sondern zusätzlich auch als „Neben- bedingungen“ (siehe Safety-First-Konzept 8 ). Schon auf- grund der oben erwähnten gesetzlichen Vorgaben aus dem Risikomanagement werden viele Unternehmens- führungen mögliche bestandsgefährdende Entwick- lungen nicht nur erkennen, sondern auch vermeiden wollen. Mindestanforderungen an die Bestandssicher- heit lassen sich als Mindestanforderung an das zukünf- tige Unternehmensrating (auch in risikobedingt mögli- chen Stressszenarien) formulieren, was in den neuen „Risikotragfähigkeitskonzepten“ erfasst wird. 9 Es ist erwähnenswert, dass die Betrachtung der Auswir- kung unternehmerischer Entscheidungen – z. B. Investi- tionen, Akquisitionen oder Strategieveränderungen – auf das zukünf tige Rating nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch durch den Gesetzgeber geboten ist. Die in § 93 Aktiengesetz formulierte sogenannte „Business Jud- gement Rule“ fordert nämlich den Vorstand auf, sich vor einer unternehmerischen Entscheidung belegbar „ange- messene Informationen“ zu beschaffen. 10 Bei einer Ent- scheidung unter Risiko bzw. Unsicherheit sind damit na- türlich auf jeden Fall Informationen über die mit der Ent- scheidung einhergehenden Risiken gefordert. Und unter diesen Risikoinformationen haben Informationen über das Insolvenzrisiko – das Rating – natürlich einen beson- ders hohen Stellenwert, wie auch die Rechtsprechung klarstellt. Schließlich ist das Rating auch bei einer Vielzahl weiterer operativer Einzelentscheidungen von grundlegender Be- deutung. Bekanntlich bestimmt das Rating die Finanzie- rungskonditionen (speziell Fremdkapitalzinssätze und die davon zu unterscheidenden Fremdkapitalkosten 11 ). Entsprechend sagen z.B. die „Grundsätze ordnungsgemä- ßer Planung“, dass die Planung des zukünftigen Fremdka- pitalzinsaufwandes ohne eine Prognose des diesen maß- geblich zugrundeliegenden Ratings nicht „ordnungsge- mäß“ ist. Auch die gesamte Finanzierungsplanung, spe- ziell der Finanzierungsstrukturplanung, ist ohne Bezug zu Rating (und Risikoanalyse bzw. Risikoaggregation) nicht sinnvoll möglich. In einem realen unvollkommenen Kapitalmarkt mit Rating- und Finanzierungsrestriktionen gelten die bekannten Modigliani-Miller-Thesen nicht. Der Bedarf eines Unternehmens an Eigenkapital – und damit die Finanzierungsstruktur – ist abhängig von (1) dem ag- gregierten Ertragsrisiko und (2) dem geplanten Ziel-Ra- ting. Höhere Unternehmensrisiken und höhere Anforde- rungen an die Bestandssicherheit, also die Ratingnote, führen zu einem größeren Bedarf an Eigenkapital. Eine fundierte Beurteilung der Finanzierungsstruktur in den Finanzabteilungen der Unternehmen ohne Bezug auf das Rating ist entsprechend sinnlos. Die Liste der bedeutenden Sachverhalte, die mit dem Thema Rating verbunden sind, ließe sich erweitern (man bedenke, dass z.B. Unternehmen mit einem schwachen Rating für auf Sicherheit orientierte Mitarbeiter oder auf Kunden unattraktiv werden). Aber auch die hier zusam- mengefassten Kernthemen zeigen bereits, dass eine vernünftige betriebswirtschaftliche Unternehmensfüh- rung ohne konkrete Messung des aktuellen und die Pro- gnose des zukünftigen Ratings – in risikobedingt mög- lichen verschiedenen Zukunftsszenarien – schlicht nicht sinnvoll ist. Es stellt sich also die Frage, warum die zen trale Schlüsselgröße der Betriebswirtschaft weder in der Praxis der Unternehmensführung, noch im Schrifttum und in der Ausbildung den Stellenwert genießt, der ihr hier gebührt. Prof. Dr. Werner Gleißner ist Vorstand bei der FutureValue Group AG in Leinfelden-Echterdingen und Honorarprofessor für Betriebswirtschaft, insb. Risikomanagement, an der TU Dresden. Er ist Mitglied im Internationalen Controller Verein (ICV) und imBeirat der Risk Management & Rating Association e. V. w.gleissner@futurevalue.de
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