Controller Magazin 9/10-2020
8 Controller Magazin | Ausgabe 5 RISIKOMANAGEMENT & RATING denen Unternehmen in der Zukunft ausgesetzt sind. 16 Die primär auf historischen Finanzkennzahlen basieren- den Ratingverfahren, die ergänzend meist eher qualitati- ve Informationen z.B. über die strategische Positionie- rung eines Unternehmens erfassen, berücksichtigen im- plizit diejenigen Risiken, die im letzten verfügbaren Jah- resabschluss eingetreten sind – aber nicht die in der Zukunft liegenden Risiken. Simulationsbasierte Rating- verfahren, die auf einer Monte-Carlo-Simulation der Risi- ken mit Bezug auf die Unternehmensplanung aufbauen, sind empfehlenswert. Dennoch zeigen die empirischen Validierungsschritten regelmäßig, dass mit der Insol- venzwahrscheinlichkeit eine gut fundierte Information über ein Unternehmen vorliegt, die für die hier skizzier- ten betriebswirtschaftliche Fragestellungen genutzt wer- den kann. Es liegt also sicherlich nicht an der mangelnden Qualität der Schätzer der Insolvenzwahrscheinlichkeit, dass diese Informationen in anderen betriebswirtschaftlichen Fra- gestellungen wenig genutzt werden. 17 Welche Gründe sind dann für die aufgezeigten Defizite relevant? Es sind vermutlich neben der Historie imWesentlichen drei Pro- blemkomplexe, die hier zu betrachten sind: 1. Ein Großteil der traditionellen Betriebswirtschaftsleh- re, inklusive Finanzierungs- und Unternehmensbewer- tungslehre, basiert auf der neoklassischen Theorie voll- kommener Märkte. Bekannt sind z.B. das Modigliani-Miller-Theorem, demzufolge bei Vernachlässigung von Steuern der Verschuldungsgrad eines Unternehmens ir- relevant ist. Man nutzt das Capital Asset Pricing Modell (CAPM), das auf der Hypothese vollkommener Märkte basiert, für die Ableitung von Kapitalkosten und Unter- nehmenswerten. 18 Aus der Theorie vollkommener Märk- te folgt jedoch, dass mangels Rating- und Finanzierungs- restriktionen Insolvenzen gar nicht auf treten können und diese zumindest keine Auswirkungen auf den Unter- nehmenswert haben. 19 Wer an die realitätsferne These vollkommener Märkte ohne Finanzierungsrestriktionen und allgemeinen kostenlos verfügbaren Informationen glaubt, muss sich mit Insolvenzrisiken und Insolvenzpro- gnose- oder Ratingverfahren natürlich nicht befassen. Entsprechend wird das Thema in einem erheblichen Teil der betriebswirtschaftlichen Literatur ignoriert, in der betriebswirtschaf tlichen Ausbildung kaum angespro- chen und damit auch in der praktischen Bedeutung un- terschätzt. Erst in den letzten Jahren wurde die Bedeu- tung des Insolvenzrisikos z.B. für die Unternehmens bewertung und damit auch die wertorientierte Unter- nehmensführung thematisiert. 20 2. Bei vielen der in Praxis und auch in der Forschung täti- gen Ökonomen fehlt ein adäquates fundiertes Wissen über Rating- und Insolvenzprognose-verfahren. Dies ist zum erheblichen Teil eine Konsequenz aus 1. Ohne Kenntnis der Verfahren, mit denen man die Insolvenz- wahrscheinlichkeit eines Unternehmens ableiten kann, werden aber z.B. Insolvenzrisiken von Bewertungsgut- achtern nicht adäquat bei der Unternehmensbewertung berücksichtigt. Das Insolvenzrisiko ist ein Themenfeld, das ähnlich wie insgesamt das Thema Unsicherheit und Risiko, in der betriebswirtschaftlichen Ausbildung und in der Konsequenz auch in der Praxis zu kurz kommt. 3. Schließlich sind auch psychologische Aspekte für die Erklärung relevant. Menschen haben große Schwierig- keiten mit dem stochastischen Konzept „Risiko“ adäquat umzugehen. Man spricht in der Psychologie von Risiko- blindheit. Menschen neigen dazu, sich nur mit ihrem ge- wünschten Zukunftsszenario zu befassen und Risiken, die zu anderen Entwicklungen führen können, zu igno- rieren. Besonders unangenehm ist die Beschäftigung mit dem möglichen Scheitern des Unternehmens, so dass dieses mögliche Zukunf tsszenario nicht betrachtet wird. 21 Menschen haben zudem große Schwierigkeiten Risiken adäquat einzuschätzen (Risikowahrnehmungs- verzerrung). Insbesondere Risiken mit kleiner Eintritts- wahrscheinlichkeit, wie das Insolvenzrisiko, sind ohne adäquate betriebswirtschaftliche und statistische Me- thoden intuitiv kaum erfassbar. Sie liegen außerhalb der üblichen persönlichen Erfahrungen. Die dritte Facette der Risikoblindheit besteht darin, dass Menschen Risiko- informationen ohne betriebswirtschaftliche Methoden nicht adäquat bei ihren Entscheidungen berücksichtigen können. Entsprechend werden beispielsweise Informati- onen über die Veränderung der Insolvenzwahrschein- lichkeit, die z.B. infolge einer Akquisition bei einem Un- ternehmen selbst entsteht, intuitiv nicht im Entschei- dungskalkül berücksichtigt. Es wird nicht beachtet, dass schon eine kleine Veränderung der Insolvenzwahrschein- lichkeit pro Jahr durch die übernommenen Risiken er- hebliche Auswirkungen auf den Unternehmenswert hat. Die Prägung durch die neoklassische Theorie vollkom- mener Märkte, die Defizite in der allgemeinen be- triebswirtschaftlichen Ausbildung und die ausgepräg- ten psychologischen Probleme von Menschen im Um- gang mit Risiken imAllgemeinen und mit Insolvenzrisi- ko im Besonderen, erklären, warum Rating und Insolvenzrisiko trotz der ökonomischen Relevanz wenig Beachtung finden. Wie oben gezeigt, sind die Implika- tionen gravierend: Die Nichtbeachtung des Insolvenz- Prof. Dr. Ottmar Schneck ist Rektor und Geschäftsfüh- rer der SRH Fernhochschule The Mobile University, Riedingen und Beirat der Risk Management & Rating Association e. V. Er ist im Stiftungsrat gemeinnütziger Stiftungen, Lehrbuchautor unter anderem des Bestsellers Lexikon der BWL, Referent und Trainer in Unternehmen, Planspielent- wickler und Experte zum Thema Bankenregulierung in nationalen und internatio- nalen Organisationen ottmar.schneck@ mobile-university.de „Theorie, Methoden und Praxis des Ratings haben sich also in gewisser Weise in einer Nische der Betriebs wirtschaf tslehre entwickelt und die Verknüpfungmit anderen Themenfeldern hat nie stattgefunden.“
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