Controllermagazin 6/2020
87 Controller Magazin | Ausgabe 6 HINTERGRUND sichten gewonnen? Oder desorientiert diese Fülle von Ansätzen, macht immer Neues die Situation nur verwirrender? Sailer: Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Sichtet man all die Begriffe, Konzepte, Initiativen, Deklarationen und Standards, grenzt dies fast an eine Überfor- derung. Andererseits erreichen mich Anfra- gen von Controllern aus KMU, wie sie bei der Steuerung der Nachhaltigkeit am besten vorgehen sollen. Welche Methoden haben sich bewährt, welche Standards haben sich als sinnvoll und praktikabel erwiesen, bis hin zu Fragen, welche Software diese Aufgaben bestmöglich unterstützt? Zwischen den Standards und der betrieblichen Umsetzung bestehen noch Erkenntnislücken, auch wenn verschiedentlich Umsetzungshilfen für KMU angeboten werden. Biel: Sind nicht vor der Umsetzung einige grundsätzliche Themen zu überlegen und zu klären? Sailer: Das stimmt. Vor der Umsetzung sind in der Tat auch grundsätzliche Fragen zu klä- ren, und dies kann nur individuell erfolgen. Biel: Bitte nennen Sie uns wegen der Bedeu- tung dieser Klärungen einige Beispiele. Was können die angesprochenen Standards für die Unternehmen ggf. auch nicht leisten? Sailer: Gerne. Ich denke u. a. an diesen Klä- rungsbedarf: ■ Wie ist etwa die Akzeptanz der Nachhal- tigkeit bei Shareholdern, Stakeholdern, dem Management und den Mitarbeitern ausgeprägt? ■ Sind gar Widerstände zu erwarten, insbe- sondere wenn wirtschaftliche Einbußen befürchtet werden? ■ Wie sind wirtschaftliche, ökologische und soziale Ziele auszubalancieren, um die Er- wartungen bestmöglich zu erfüllen? ■ Welche Prioritäten sollen im Nachhaltig- keitsmanagement gesetzt werden: Emis- sionen senken, die Einhaltung von Sozial- standards in der Beschaf fungskette si- cherstellen oder die Chancengleichheit unter der Mitarbeiterschaft steigern? ■ Und sind die Beteiligten auch zu weitrei- chenden Änderungen bereit, die über eine Optimierung bestehender Prozesse und Produkte hinausgehen, wie etwa die Ent- wicklung nachhaltiger Geschäf tsmodelle oder Veränderungen des Führungssystems? Viele dieser ganz konkreten und grundsätz- lichen Fragen müssen im Unternehmen selbst beantwortet werden. Dies leisten die Standards und Deklarationen nicht. Biel: Lassen Sie uns weiter auf der betriebli- chen Ebene, also auf der Umsetzungsebene bleiben. Bevor wir auf das betriebliche Nachhaltigkeitsmanagement eingehen, möchte ich die Frage aufwerfen: Welche Bedeutung hat die Nachhaltigkeit in der be- trieblichen Praxis bereits erlangt. Vermut- lichmuss man differenzieren. Einzelne Pro- jekte, beispielsweise zum Umweltschutz oder zum Energiesparen, gab es schon im- mer. Können Sie aber auch in der Breite Schritte zum systematischen Nachhaltig- keitsmanagement im nennenswerten Um- fange beobachten? Wodurch zeichnet sich ein gutes betriebliches Nachhaltigkeitsma- nagement aus? Sailer: Was ich beobachte, ist eine sehr gro- ße Bandbreite. Die Wahrnehmung von au- ßen unterscheidet sich dabei oft von dem tatsächlichen Grad an Systematik in der Um- setzung und der Integration in den verschie- denen betrieblichen Funktionen. Da gibt es weltweit tätige Konzerne, bei denen der Nachhaltigkeitsbericht vor allem Fragen auf- wirft anstatt diese zu beantworten, und auf der anderen Seite gibt es überzeugte und engagierte Mittelständler, bei denen das Nachhaltigkeitsverständnis in der Kultur, der Vision, der Strategie und in den Operati- ons verankert ist. Biel: Bitte lassen Sie uns nach Ihrem Bild der Vielfalt und Unterschiedlichkeit noch ein- mal der Frage nachgehen: Wie können wir die Nachhaltigkeit vorteilhaft auf die Schie- ne setzen und dafür sorgen, dass der Ansatz der Nachhaltigkeit verwirklicht wird? Sailer: Es hat sich bewährt, erst mit einzel- nen nachhaltigen Pilotprojekten zu starten und erste Erfahrungen zu sammeln, bevor das betriebliche Nachhaltigkeitsmanage- ment systematisiert wird. Dies zeichnet sich dadurch aus, dass über die grundsätzlichen Ziele und die Bedeutung der Nachhaltigkeit zwischen Shareholdern, Stakeholdern und dem Topmanagement ein Einvernehmen hergestellt ist. Hierauf basierend sind die strategischen und operativen Ziele, Pläne, Maßnahmen und die Kommunikation ent- sprechend anzupassen und in das Steue- rungssystem zu integrieren. Die Verbindung von der strategischen zur operativen Ebene kann dabei etwa durch eine Sustainability Balanced Scorecard (SBSC) erfolgen. Biel: Reichen diese organisatorischen und methodischen Überlegungen wirklich? Sailer: Nein, neben diesem eher technischen Aspekt der Steuerung ist eine nachhaltige Ausrichtung auch in der Führung und in der Unternehmenskultur zu etablieren, sodass ein nachhaltig verantwortliches Agieren für alle Beteiligten eine Selbstverständlichkeit ist. Biel: Was sind die Treiber, die Einflussgrö- ßen der Nachhaltigkeit? Wie sich vielfältig wahrnehmen lässt, ändert sich das Unter- nehmensumfeld, u. a. gewinnen Aspekte der Nachhaltigkeit merklich an Bedeutung, wie z. B die Debatte zum Klimawandel zeigt. Wir können mehrere Dimensionen von öffentlichen Nachhaltigkeitsherausfor- derungen registrieren. Zunächst: Was be- deutet dies für den Stakeholderdialog? Müssen Stakeholder intensiver eingebun- den werden? Sailer: Der Dialog mit den Stakeholdern ist eine wesentliche Grundlage des systemati- schen Nachhaltigkeitsmanagements. Ohne diesen lassen sich beispielsweise die Anfor- derungen der GRI-Richtlinien, immerhin der weltweite Quasi-Standard der Nach- haltigkeitsberichterstattung , nicht erfüllen. Biel: Damit können wir ggf. in ein Span- nungsverhältnis zwischen Stakeholdern Summary Dieses Interview, das 93. der Reihe Ex- perten-Interviews, geht einem zentralen Ansatz unserer Zeit nach: der Nachhal- tigkeit. Es fragt, wo wir bei der Nachhal- tigkeit und der Nachhaltigkeitssteue- rung stehen. Auf Grundlagen und Merk- male der Nachhaltigkeit wird ebenso eingegangen wie auf Anforderungen und Schwierigkeiten der praktischen Umset- zung des Nachhaltigkeitscontrollings. Ziel des Interviews ist, sowohl eine Be- standsaufnahme vorzunehmen als auch die Diskussion zum Nachhaltigkeits controlling zu beleben.
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