Controllermagazin 6/2020

81 Controller Magazin | Ausgabe 6 HINTERGRUND Die aktuelle Corona- Pandemie-Krise veran- schaulicht die Herausforderungen in der Quantifizierung von Variablen, deren zu- künftige Entwicklung als unsicher betrach- tet werden kann: Die Erhebung und Auf- bereitung aktueller Zahlen zu infizierten Personen ermöglicht in Folge die Schät- zung der Fallzahlen. Diese werden an- schließend herangezogen, um über Maß- nahmen zu entscheiden, die zu einer ver- langsamten Ausbreitung des Virus führen sollen. Ähnlich verhält es sich im unterneh- merischen Risikomanagement, statistische Methoden werden eingesetzt, um neues Wissen über potenzielle zukünftige Risiko- ereignisse und deren (finanzielle) Auswir- kungen auf den Unternehmenserfolg zu erlangen und Maßnahmen zur Risikosteu- erung abzuleiten. Unzureichende Datenlage Die Grenzen der klassischen Statistik, de- ren Methoden sich ausschließlich auf Da- ten stützen, wurden gerade zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland deutlich: Einem Bericht von Baars/Grill auf der Web- seite der Tagesschau vom 26.03.2020 zufol- ge, sei die Prognose des Anteils der Perso- nen, die an dem Corona-Virus schwer er- kranken, schwierig, da bisher eine „solide Datenbasis“ fehle. Begründet wird dies im Bericht dadurch: „Erst mit zunehmenden Fallzahlen in Deutschland bekomme das RKI ein realistischeres Bild, wie die Epidemie in Deutschland tatsächlich verlaufe.“ Unter- nehmen unterliegen bei der Quantifizie- rung ihrer Risiken oft einer vergleichbaren Situation. Beispielsweise fehlen für die Be- wertung von operationellen Risiken, wie Ri- siken in Verbindung mit Cyberkriminalität, Unterbrechung der Lieferketten, Klimawan- del oder auch Pandemien relevante Daten, da solche Risiken i.d.R. (sehr) selten eintre- ten. Dennoch ist eine Risikoquantifizierung gerade für solche existenzbedrohenden Ri- siken unumgänglich, wie die steigende An- zahl von Unternehmen verdeutlicht, die auf- grund der Corona-Pandemie in eine „finanzi- elle Schieflage“ geraten sind. Der Einsatz der Bayesschen Statistik in der Risikoquantifi- zierung ermöglicht, weitere – insbesondere qualitative oder auch subjektive – Informa- tionen bei der Prognose zu berücksichtigen. In Folge kann die Unsicherheit, die mit einer Prognose einhergeht, reduziert werden. Risikoquantifizierung Bisweilen schaut der Risikomanager neidisch auf seinen Big-Data-Kollegen. Dieser hat Daten imÜberfluss, kann aus demVollen schöpfen und hat viele erprobte statistische Methoden, um große Datenmengen zu verarbeiten. Im Risikomanagement hingegen mangelt es oft an einer ausreichenden Datenbasis, ganz besonders, wenn es sich um operati- onelle Risiken handelt. Für strategische Ri- siken liegen meist überhaupt keine Daten vor. Die Quantifizierung sogenannter „da- tenarmer“ Risiken stellt eine große Her- ausforderung dar: Ein Risiko soll mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung be- schrieben werden, d. h. mögliche Scha- denswirkungen werden ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit zugeordnet. Zur Risikobeschreibung werden beispiels- weise Binomial-, Dreiecks- oder Normal- verteilung benutzt. Anschließend werden die Parameter der Wahrscheinlichkeitsver- teilung (z. B. Erwartungswert und Stan- dardabweichung der Normalverteilung) geschätzt. Ausgangspunkt für die Anwen- dung der klassischen statistischen Metho- den zur Risikomodellierung sind i.d.R. his- torische Daten. Jedoch ist gerade der Um- fang der zur Verfügung stehenden Daten für die Aussagekraft und Validität des Risi- komodells von zentraler Bedeutung. Risi- koquantifizierung ohne ausreichende Da- tenbasis führt zu Schätzunsicherheiten und in Folge möglicherweise zu Fehlsteue- rungsimpulsen bei zentralen unternehme- rischen Entscheidungen. Ein kleiner Schatz, der im Risikomanage- ment noch gehoben werden darf, ist die Bayessche Statistik. Damit stehen statisti- sche Methoden zur Verfügung, die auch bei wenig Daten und unbekannten Parametern die Risikomodellierung verbessern können. Auch subjektive Schätzungen sind wertvoll und können eingebunden werden. Das Be- sondere ist, dass neue Daten einen Lernpro- zess anstoßen, um das verwendete Risiko- modell zu verbessern. Praxisbeispiel Um den Nutzen im Unternehmenskontext zu zeigen, wird hier ein vereinfachtes kauf- männisches Beispiel verwendet. Ein Energie- versorgungsunternehmen (kurz: EVU) ver- sorgt in einem neuen Wohnviertel 250 Wohneinheiten mit Gas und Strom. Die durchschnittlichen Jahresverbräuche sind annähernd gleich. Bei fortlaufender Ge- schäftsbeziehung wird ein Gewinn von ins- gesamt 30.000 EUR pro Jahr erwirtschaftet. Das einzige Risiko besteht darin, dass Kun- den die Geschäftsbeziehung kündigen. Da- bei entsteht ein Schaden von 5.000 EUR d. h. ab 6 Kündigungen entfällt der Gewinn. So- weit ist das auch schon ohne Statistikkennt- nisse rechenbar. Da das Unternehmen das Geschäft aber neu aufgezogen hat, ist nicht bekannt, mit wie vielen Kündigungen jähr- lich zu rechnen ist. Schritt 1 der Risikomodellierung: DieWahrscheinlichkeitsverteilung Für den neuen Geschäftsbereich wurde ein neuer Mitarbeiter eingestellt. Auf Basis sei- ner langjährigen Erfahrungen geht er da- von aus, dass die Zahl der Kündigungen eine unsichere Größe ist. In der Statistik wird eine solche Größe als Zufallsvariable modelliert. Die Zufallsvariable zählt die An- zahl der Kündigungen innerhalb des neuen Wohnviertels und kann die Werte 0, 1, 2, …, 250 annehmen. Ferner werden die Wohn- einheiten des neuen Viertels als homogene Gruppe im Hinblick auf ihr Kündigungsver- halten aufgefasst, d. h. jede Wohneinheit besitzt dieselbe Kündigungswahrschein- lichkeit. Weiterhin wird angenommen, dass mehrere Kündigungsereignisse unabhän- gig voneinander eintreten. Unter diesen Annahmen eignet sich die Binomialvertei- lung als Verteilungsmodell für die Anzahl von Kündigungen. Summary Die klassische Statistik eröffnet die Möglichkeit, auf Basis von vorhandenen Daten einen Blick in die Zukunft zu wer- fen. Aber was ist, wenn aus der Vergan- genheit zu wenig Daten zur Verfügung stehen oder neue, noch nie da gewesene Ereignisse zu bewerten sind? Die Quan- tifizierung neuartiger oder „datenar- mer“ Risiken erfordert mehr Kreativität im Einsatz statistischer Werkzeuge. Die Bayessche Statistik stellt solche Werk- zeuge zur Verfügung!

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