CONTROLLER Magazin 5/2019
21 Biel: Lassen Sie uns bitte bei aller Euphorie über die neuen Möglichkeiten und Aussichten kurz innehalten. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass die Digitalisierung mit erheblichen Risiken und Problemen belastet sein kann. Wie sehen Sie diese Schattenseiten? Kreutzer: Ich diskutiere mit meinen Partnern umfassend immer auch die dunklen Seiten neuer Entwicklungen , sei es bei Social Me- dia oder der Digitalisierung! Auch bei der Digi- talisierung gibt es viele Entwicklungen, die ich sehr kritisch sehe – trotzdem können wir sie nicht aufhalten und müssen uns deshalb damit beschäftigen. Die vielfach diskutierte Vernet- zung im Rahmen des Internet-of-Things bzw. des Internet-of-Everything führt nicht nur zu neuen Geschäftsmodellen, sondern ermög- licht auch Kriminellen, immer tiefer in Unter- nehmensprozesse und Unternehmensgeheim- nisse einzudringen. Biel: Besonders kritisch und auch sensibel ist das Problemfeld Entwicklung und Veränderung der Arbeitsplätze. Wie positionieren Sie sich hier? Kreutzer: Die Digitalisierung ersetzt – auch wenn dies häufig noch abgestritten wird – klassische Arbeitsplätze . Sie schafft auch neue Beschäftigungsfelder; allerdings wird sich ein am Band oder für einfache Recherchezwe- cke nicht mehr benötigter Mitarbeiter kaum zum KI-Spezialisten qualifizieren können. Es gibt Verluste und Zugewinne an Beschäftigung. Ich gehöre zu denjenigen Personen, die für die nächsten zehn Jahre deshalb eher einen Rück- gang an Beschäftigung voraussagen. Zu- nächst werden wir für die Digitalisierungsauf- gaben viele neue Spezialisten benötigen. Aber wenn viele Services und Prozesse digitalisiert sind, wird auch deren Bedarf abnehmen! Es bleibt spannend! Biel: Herzlichen Dank für Ihre spannenden und anregenden Ausführungen sowie für die sehr erquickliche Zusammenarbeit und die überaus angenehme Kooperation. diskutieren z. B. für die Kompetenzprofile und Entwicklungspfade? Kreutzer: Wir haben schon seit Jahrzehnten vom Lifelong Learning gesprochen, aber noch nie war es so wichtig wie heute. Während mei- ner Studienzeit gab es für den Normalbürger weder Computer noch Mobiltelefon. Auch habe ich an der Elite-Universität Mannheim nichts über Online-Marketing, Internet, digitale Trans- formation, 3-Horizonte-Modell, Agiles Manage- ment, Ambidextrie, künstliche Intelligenz und Ähnliches gelernt. Diese Herausforderungen gab es damals noch gar nicht. Biel: Wie kann sich denn das geforderte le- benslange Lernen gestalten? Kreutzer: Bitte lassen Sie mich persönlich ant- worten. Wenn ich bei all diesen Themenstellun- gen heute ein geschätzter Consultant, Coach, Trainer und Autor bin, dann zeigt das nur eines: Ich habe mich in den letzten Jahren immer wie- der auf die Hinterbeine gesetzt, um die aktuel- len Entwicklungen nicht nur zu verstehen, son- dern auch eigene Impulse zu setzen. Aus eige- nem Antrieb, weil es mich interessiert, aus in- trinsischer Motivation , weil für mich gilt: Life is Learning und Learning is Life! Biel: Führen die enorme Schnelllebigkeit und der durchgreifende Wandel nicht auch zu per- manenten und zudem wachsenden Kompe- tenz- und Qualifizierungslücken? Kreutzer: Ja, das müssen wir uns alle – idea- lerweise eigenverantwortlich – vor Augen füh- ren. Denn es tut sich heute in der Tat eine gra- vierende strategische Qualifizierungslücke auf, die wir aus eigenem Antrieb schließen soll- ten. Abbildung 9 zeigt die Dimensionen. Die in Schule, Universität und Berufsausbildung ge- wonnenen Qualifikationen reichen für ein Ar- beitsleben immer weniger aus! Schließlich gibt es Prognosen, dass 70% der heutigen Grund- schüler zukünftig Berufen nachgehen werden, die es heute noch gar nicht gibt. Ein Beispiel gefällig? Wer hätte noch vor 10 oder 15 Jahre gedacht, dass einmal eine große Nachfrage nach KI-Analytikern, UX-Designern, Big-Data- Spezialisten, App-Entwicklern und Influencern auftreten wird? Kreutzer: Für Führungskräfte heißt das zu- nächst: loslassen ! Das fällt insb. dem mittle- ren Management schwer, das oft viele Jahre oder Jahrzehnte auf die Position mit Sekreta- riat, Assistent, Firmenwagen und vielen Dut- zend oder gar Hundert Mitarbeitern hingear- beitet hat – und auf einmal heißt es: Jetzt alles anders! Gibt Macht ab an Dein Team! Verstehe Dich als Dienstleister Deiner Team- mitglieder (um den schrecklichen Begriff „Un- tergebene“ zu vermeiden)! Akzeptiere die Vor- schläge Deiner Teammitglieder (vielleicht ha- ben diese wirklich die besseren Ideen)! Und lerne, dass es zum Innovationsprozess dazu- gehört, auch Fehler und gescheitere Projekte zu akzeptieren. Biel: Vor allem in den 1990er Jahren wurde im Rahmen des Lean Managements das Bild des mittleren Managements als Lehm- und Lähm- schicht des Unternehmens geprägt und ge- pflegt. Haben wir dieses Thema noch oder schon wieder? Kreutzer: Ja, ein blockierend agierendes Middle Management wird in den Unternehmen oft als Lehmschicht wahrgenommen , die weder Ideen von oben nach unten noch von un- ten nach oben durchdringen lässt. Deshalb wird häufig auch von Lähmschicht gesprochen . Menschlich nachvollziehbar, aber sachlich in- akzeptabel! Schließlich verspielen die so agie- renden Führungskräfte die Zukunft des Unter- nehmens – und denken ggf. nur an das eigene nahende Rentenalter! Biel: Also ist heute Change Management ge- fragt? Kreutzer: Ja! Deshalb heißt die Herausforde- rung für alle Führungskräfte: Change Ma- nagement mit den Zielen „raus aus der Kom- fortzone“, „Neues ausprobieren“ und den eige- nen „Teammitgliedern Raum, Zeit und Budget zum Atmen und kreativen Agieren geben“. Auch wenn das Loslassen wehtut; das darf es auch! Trotzdem muss es sein! Biel: Bitte lassen Sie uns die Perspektive wech- seln und uns in die Sichtweise und in die Situa- tion der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter versetzen. Was bedeutet das, was wir CM September / Oktober 2019
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