Personalmagazin plus Kanzleien 7/2024

Einblick Wie man die richtige Kanzlei auswählt Rückblick Die wichtigsten BAG-Urteile in den vergangenen Monaten Ausblick Einvernehmliche Aufhebung des Arbeitsvertrags mit Legal Tech personalmagazin plus 07.24 Kanzleien im Arbeitsrecht Übersicht, Trends, Profile Kanzleien

Premiumpartner

Editorial 3 plus Liebe Leserinnen und Leser, die Arbeitswelt von heute wird mit rasantem Tempo immer flexibler, digitaler und vernetzter. Die rechtlichen Rahmenbedingungen hinken hinterher. Längst ist es in vielen Branchen normal, dass in größeren Betrieben eine Vielzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über ganz Deutschland verteilt im Homeoffice sitzen, doch Betriebsversammlungen dürfen nicht digital oder hybrid durchgeführt werden. Wer reist von Hamburg nach München, um für zwei Stunden an einer Betriebsversammlung teilzunehmen? Das Betriebsverfassungsgesetz wurde zuletzt 1972 in größerem Umfang reformiert, jüngste Nachbesserungen, wie etwa durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz vor drei Jahren sind hilfloses Stückwerk geblieben. Das Arbeitszeitgesetz entstammt dem Jahr 1994 und dem Gesetzgeber gelingt es nicht, den Spagat zwischen dem Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – sprich größerer Flexibilität – und den Vorgaben des Arbeitsschutzes zu lösen. Die Verbandszugehörigkeit der Arbeitgeber sinkt weiter, die Gewerkschaften verlieren Mitglieder, die Zahl der Betriebe mit Betriebsrat geht stetig zurück. Wo mangels Mitspieler keine tariflichen und betrieblichen Lösungen mehr gefunden werden können – die viel besser den Anforderungen der einzelnen Brachen und Betriebe gerecht werden könnten – versucht der Gesetzgeber, die Lücke zu schließen und erlässt Gesetz um Gesetz. Was die Rechtslandschaft im Arbeitsrecht selten besser, dafür aber immer unübersichtlicher werden lässt. Welche HR-Abteilung hat noch alle rechtlichen Rahmenbedingungen im Blick? Eine Blöße – die Compliance-Anforderungen steigen ständig – darf man sich hier nicht geben. Vielen Fragestellungen lassen sich kaum noch lösen, ohne eine gute Beratung hinzuzuziehen. Die 14. Auflage dieses Kompendiums wird Ihnen bei der Auswahl eines arbeitsrechtlichen Beraters gute Dienste leisten. Viel Spaß beim Lesen! Frank Bollinger Redaktion Personalmagazin Inhalt 04 Die richtige Kanzlei finden Worauf ist bei Auswahl einer Kanzlei zu achten? Welche Aspekte sind entscheidend? 08 Digitale Einigung im Kündigungszenario Per Legaltech zur Abfindung – ein junges Startup hat ein digitales Schlichtungsverfahren entwickelt. 12 Mann mit Wunschberuf Bürokauffrau AGG-Hopping bleibt ein Problem. Die Gerichte ziehen die Rechtsmissbrauchs-Bremse. 16 Das BAG sorgt für Klarheit Eine Übersicht über die wichtigsten Urteile des Bundesarbeitsgerichts im letzten Jahr 20 Arbeitszeiterfassung Vom Gesetzgeber nichts Neues. Wie ist der Status Quo beim Thema Zeiterfassung? 24 Ungeliebt und widerwillig umgesetzt Wie Unternehmen in der Praxis das Hinweisgeberschutzgesetz handhaben. 26 Kanzleiporträts 28 ACT Legal Germany 30 Advant Beiten 32 Arqis 34 Esche Schümann Commichau 36 Fringspartners Arbeitsrecht 38 Görg 40 Kliemt Arbeitsrecht 42 Menold Bezler 44 Seitz 46 SKW Schwarz 48 Taylor Wessing 50 Impressum personalmagazin Kanzleien 2024 Titel: Jens Bonnke „Welche HRAbteilung hat noch alle rechtlichen Rahmenbedingungen im Blick?“

5 Anwaltsauswahl Arbeitsgerichtsprozesse, Verhandlungen mit Gewerkschaften und Betriebsräten, Gestaltung neuer Unternehmensstrukturen – kompetente arbeitsrechtliche Beratung ist immer wieder gefragt. Doch wie sucht man die passende Arbeitsrechtskanzlei aus? Von Alexander R. Zumkeller Eine arbeitsrechtlich versierte HR-Abteilung kann viele arbeitsrechtliche Probleme selbst lösen. Aber in jedem Unternehmen gibt es Projekte, Fälle oder Anlässe, die es ratsam erscheinen lassen, sich externe Expertise ins Haus zu holen. Mal mag es der Zeitaufwand sein, der nötig wäre, sich um ein Thema selbst zu kümmern, mal mögen es eher abseitige Rechtsgebiete sein, in die man sich erst einarbeiten müsste oder man hat es mit Fallkonstellationen zu tun, die man aus guten Gründen lieber in unternehmensfremde Hände gibt, als zu versuchen, sie intern zu lösen. Der Gang zum (Arbeits-)Gericht: die Qual der Wahl des richtigen Prozessvertreters Eigentlich ist jeder vermiedene Arbeitsgerichtsprozess der beste Prozess. Nicht des Vermeidens wegen – ein Vorsitzender eines Senats beim BAG meinte einmal: „Wenn ihr die Sachen nicht bis zu uns hochbringt, werdet ihr nie erfahren, wie wir darüber denken“. Wohl gesprochen, aber er verkannte womöglich den steinigen Weg bis dahin. Hat man die erste und zweite Instanz gewonnen oder verloren? Wie steht es um die Dauer bis zur Entscheidung zweiter Instanz? Wie groß ist das Risiko einer Annahmeverzugsentgeltzahlung oder der Weiterbeschäftigung? Lässt die zweite Instanz die Revision überhaupt zu? Und schließlich, etwa bei Betriebsrenten- und Sozialplanforderungen: Welche Signalwirkung hätte das im Unternehmen, hier eine Klage loszutreten? Auf all das kann der Betriebspraktiker in aller Regel verzichten. Interessenvertreter – Anwälte, Verbandsvertreter, Gewerkschaftssekretäre – sind, so die landläufige Meinung, „gut“, wenn sie ordentlich auf den Tisch hauen und Maximalforderungen stellen. Dabei wird verkannt, dass es sich um Interessenvertreter handelt und nicht um Positionsvertreter. Der Unterschied? Nicht auf einer Position zu beharren, sondern die gegenseitigen Interessen zu erkennen und Lösungsoptionen zu suchen. Das ist des Mediators Tagesgeschäft. Es kann also viel Sinn machen, im Frühstadium einen Vertreter zu wählen, der Mediator ist. Was hat ein Arbeitnehmer von einem „kraftstrotzenden“ Anwalt, der Abfindungsforderungen überzieht und am Ende findet sich der Arbeitnehmer dann in einem jahrelangen Prozess mit mehreren Ebenen (einstweilige Verfügung, Entgeltzahlung, Entgeltanpassung, vorläufiges Zeugnis, Tantiemenforderung, …) wieder? Und verliert diesen Prozess vielleicht sogar. Oder was hat ein Arbeitgeber davon, der darauf beharrt „der kommt Die richtige Kanzlei finden

6 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024 mir nicht mehr in die Firma!“, aber dann in der Kündigungsschutzklage ebenso unterliegt wie er einen Auflösungsantrag nicht durchbekommt? Beide Male nichts. Die Entscheidung für eine Mediation beruht also nicht zuletzt darauf, dass die rechtlichen Risiken richtig eingeschätzt werden. TIPP 1: Anwälte mit einer Zusatzausbildung „Mediator/Wirtschaftsmediator“ können die richtige Wahl sein. Ranking oder Feld-Wald-Wiesen-Anwalt? Ich habe nichts gegen Rankings; ich bin hin und wieder selbst Teil einer „Jury“. Wichtig ist, auf welcher Basis die Beurteilung erfolgt – und ob sie transparent ist. Gerne genommen wird das Bewertungskriterium „Empfehlung durch Kollegen“. Das ist allerdings recht subjektiv: während ich beurteile, ob jemand jemandes Interessen berücksichtigt, beurteilen andere nach „Erfolg“. Die Anzahl der Partner, die Berufserfahrung, die Anzahl der Veröffentlichungen? Schwierig. Es ist wie bei Ärzten: das Vertrauen zählt und das ist nicht messbar. Ich habe viele „Feld-Wald-Wiesen“-Anwälte erlebt, die einen tollen Job vor dem Arbeitsgericht machen; weil sie integer sind, weil sie ihre Grenzen kennen, weil sie im Umgang mit Partei, Gericht und Gegner fair sind und mit offenem Visier agieren. Viele Jung-Anwälte, die sich auf ihrem Karriereweg gerade in den ersten Jahren besonders viel Mühe geben. Natürlich auch viele etablierte Anwälte mit großer Reputation und Erfahrung und ebensolchem großartigen Stakeholder-Management. Aber, leider, auch das Gegenteil: Arroganz, Besserwissertum, Streithansel – auch vor Gericht nicht unbedingt gerne gesehen. TIPP 2: Geben Sie sich die Mühe, mal ein, zwei Tage zum Arbeitsgericht zu gehen. Am besten in Güteverhandlung. Beobachten Sie die Anwälte. Von wem würden Sie sich persönlich oder als Unternehmen „gut vertreten“ fühlen? Den nehmen Sie! Der Forsche oder der Zurückhaltende Nicht selten, dass man zu einem Anwalt geht, seine Geschichte erzählt und er diktiert sofort darauf los. Das lässt zwei Möglichkeiten zu: er ist so routiniert, dass ihm das wirklich leicht fällt, oder er will seinem Mandanten imponieren. Zurückhaltende Kollegen, die viel fragen, auch einmal klar sagen „das muss ich nachlesen“ oder „mit einem Kollegen diskutieren“ werden häufig, zu häufig, als „schlecht“ wahrgenommen. Bitte verstehen Sie: kein Anwalt kann auf jede Rechtsfrage sofort eine (richtige) Antwort geben. Und juristische Sachverhalte sind (fast) immer so komplex, dass es ohne Nachfragen selten geht. TIPP 3: Haben Sie den Eindruck, es handelt sich um einen „Überflieger“, ist er das vermutlich nicht – seien Sie dann besonders kritisch! Was machen Sie, wenn Sie eine Versicherung auswählen, einen EDV-Service, einen Installateur … oder Beschäftigte? Richtig, Sie sehen sich mehrere an (bei Handwerkern mag das gerade etwas schwierig sein und auch bei Beschäftigten ist die Situation eher angespannt, aber dennoch, Sie würden es versuchen). Warum nicht bei einem Interessenvertreter? Natürlich wird jeder mit seinen Erfolgen glänzen wollen. Das ist auch gut so, aber hinterfragen Sie, worin der Erfolg wirklich besteht: Den Fall gewinnen? Oder nachhaltig Rechtsfrieden generieren? Fragen Sie beispielsweise in Rechtsstreiten mit Betriebsräten, ob der Anwalt auch später noch Fälle vertreten hat. Wenn nicht, kann das zwei Gründe haben: entweder er hat vielleicht gewonnen, aber einen solchen Flurschaden angerichtet, dass der Auftraggeber lieber gewechselt hat oder die Situation ist nachhaltig befriedet und es braucht keinen Anwalt mehr. Lassen Sie sich Referenzen geben und prüfen Sie sie nach. Das ist bei einer kleinen Zahlungsklage (vielleicht) nicht wichtig, aber bei einem Beschlussverfahren zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gegebenenfalls existenziell! TIPP 4: Machen Sie sich vor einer Anwalts-Auswahl eine Checkliste, was Ihnen wichtig ist: Gewinnen? Rechtsfrieden? Ihre Reputation gegenüber allen Stakeholdern? Sie sind nie alleine - Ihre Stakeholder Kein Arbeitsrechtsstreit ist eine „Sache zwischen uns zwei“ – das gilt für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer! Natürlich sind erst einmal die zwei Parteien beteiligt. Aber dann kommen noch etliche Stakeholder hinzu: Beim Arbeitnehmer sind das die Kollegen, der Betriebsrat, die Familie, die Nachbarn. Die Nachbarn? Ja: kommt der fristlos Gekündigte plötzlich mit dem Bus statt mit dem Dienstfahrzeug nach Hause, generiert das Fragen; und wenn er jeden Tag zu Hause ist, statt ins Büro zu gehen, wird man wissen wollen, warum. Obwohl das neuerdings auch Homeoffice bedeuten könnte. Wie es in einer Familie aussieht, in der einer plötzlich zu Hause bleibt, kann man sich bei „Papa ante Portas“ – Loriot in einer seiner Glanzrollen – anschauen, ganz abgesehen davon, dass es auch darum gehen kann, den Lebensstandard zu halten. Sind Kinder in der Familie? Behinderte Menschen? Weiß man ein paar Details mehr, kann schon vieles eine andere Sichtweise erfordern. Eine Freundin fragte mich vor Jahren „jetzt habe ich meine Assistentin schon zwei Mal abgemahnt und schon wieder hat sie es getan, was soll ich tun“? Übrigens eine Freundin aus der Schweiz, wo es praktisch keinen Kündigungsschutz gibt. Nein, sie hatte mich nicht nach Rechtsrat gefragt, sondern nach Stakeholder-Management: In einer kleinen Stadt trifft man sich, trifft die Familie, der Metzger, der Bäcker, alle wissen „A hat B ALEXANDER. R. ZUMKELLER ist Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB und Präsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler im Unternehmen.

7 Anwaltsauswahl gekündigt“ und „B wurde von A gekündigt“; da achtet man auf die Richtigkeit seines Tuns – auch ohne Kündigungsschutz! Der Betriebsrat wird ebenso darauf schauen, ob eine Kündigung „zu Recht“ erging (und womöglich andere Maßstäbe ansetzen als Sie), wie auch die Kolleginnen und Kollegen. Und was ist nach einem verlorenen Kündigungsschutzprozess? Entweder kommt der Gekündigte wieder ins Büro, manchmal mit Siegeslächeln, oder eine horrende Abfindung wird bezahlt und das spricht sich herum, Schweigeklausel hin oder her. TIPP 5: Überlegen Sie, welche Stakeholder für Sie wichtig sind. Und machen Sie keinen Rechtsstreit zum „Prinzip“ – es geht nicht um Sein oder Nichtsein, sondern darum, dass alle Stakeholder sich „danach“ noch ins Gesicht sehen können! Spezialist, Boutique, Feld-Wald-Wiese oder Arbeitgeberverband/Gewerkschaft? Es gibt Fälle, die sollten Sie mit einem Spezialisten angehen. Altersversorgung. Arbeitnehmererfindungsrecht. Tarifrecht. Datenschutzrecht. Das kann eine Großkanzlei sein oder eine Boutique. Hier ist Fachwissen das Entscheidungskriterium. Andere stochern da häufig im Nebel herum, landen aber mitunter auch einmal einen Glückstreffer. In einem Fall, der in den ersten beiden Instanzen vom Arbeitgeber gewonnen wurde und beim BAG vom Arbeitnehmer, hatte ich den Arbeitnehmeranwalt gefragt „das kam jetzt aber für alle überraschend“, worauf er erquickend ehrlich antwortete: „Glauben Sie mir, für mich noch überraschender als für Sie!“ Haben Sie einen guten Anwalt, dem Sie seit Jahren vertrauen – sei es im Kaufrecht, bei Reklamationen oder kleinen Gesellschaftsrechtsthemen? Dann doch auch im Arbeitsrecht. Er will Sie als Mandant behalten und wird rechtzeitig sagen, wo seine Grenzen sind! Feld-Wald-Wiese also durchaus „ja“. Immer eine gute Wahl ist für Arbeitnehmer der Gewerkschaftsrechtsschutz, für Arbeitgeber der ArbeitgeberverbandsSyndikus. Häufig kennen sich die Kollegen auch und haben eine besondere Vertrauensbeziehung aufgebaut – zwischen sich und mit den Richtern. Suchen Sie nach dem „ehrbaren Kaufmann“? Dort finden Sie ihn am ehesten. Da traut sich niemand, den anderen zu belügen und zu übervorteilen. Lösungsorientierung ist hier üblich. Arbeitsrecht ist und bleibt, wie der Besuch beim Arzt, Vertrauenssache. Es gibt kaum ein Rechtsgebiet, in dem Urteile der Gerichte so sehr von Wertungsentscheidungen abhängen, so auslegungsfähige Gesetze vorliegen, es so sehr auf menschliche Interaktion ankommt. Machen Sie daher nicht den Fehler, die Qualität einer Kanzlei am scheinbar objektiven Erfolg festzumachen, wie etwa an der Quote gewonnener Prozesse. Gehen Sie zu der Kanzlei, der Sie wirklich vertrauen. Oder – hier kommt mein Werbeblock – stellen Sie einen eigenen Arbeitsrechtler ein. Der macht das für Sie! Von der Anleitung zur Stellenbeschreibung und wie man mit Bewerbern umgeht, über den Arbeitsvertrag, die Abwicklung von Versetzungen und Vertragsänderungen, bis hin zu Abmahnung und Beendigung (was nicht immer eine Kündigung sein muss!). Worauf Sie achten sollten DON‘TS • Der Anwalt verspricht Ihnen „den Fall gewinnen wir sicher“ oder „der Vertrag ist völlig risikofrei“. Suchen Sie lieber einen anderen Interessenvertreter! • Kollegen oder Freunde schwärmen „der Anwalt geht durch wie ein Bulldozer“ – vielleicht lesen Sie oben das Thema „Stakeholdermanagement nochmal durch! • Ohne den Sachverhalt zu hinterfragen, fängt der Anwalt an zu diktieren. Er könnte ein geniales, arbeitsrechtliches Universalgenie sein … wahrscheinlicher aber nicht. DO‘S • Sie brauchen jemanden für viele kleinere Sachen, auf verschiedenen Rechtsgebieten, die nicht sehr „speziell“ sind und Sie wollen es nicht unbedingt auf Gerichtsurteile ankommen lassen, sondern sind im Grundsatz bereit, sich gütlich zu einigen: Dann ist der Allgemeinanwalt, häufig in mittelständischen Kanzleien organisiert, sicher nicht falsch. • Es geht um eine Reihe von „Standard-Arbeitsrechtsproblemen“, womöglich regional eingeschränkt, vielleicht gar nur an Ihrem Firmenstandort und Sie sind Mitglied im Arbeitgeberverband (für Arbeitnehmer: Mitglied einer Gewerkschaft)? Dann sollten Sie den Verband auch beanspruchen. Was Sie in der Regel dort nicht erhalten, ist eine Abdeckung von sehr speziellen Themen, wie beispielsweise Altersversorgung, Arbeitnehmerdatenschutz und Arbeitnehmererfindungsrecht. Aber sonst gibt es hier oft sogar den Vorteil der vertraulichen Zusammenarbeit und günstigen Kosten (meist vom Mitgliedsbeitrag bereits abgedeckt). • Globale Themen – nehmen Sie eine globale Law firm. Ganz einfach. Aber bitte keine, die Arbeitsrecht als „me too“ anbietet, sondern eine, die wirklich weltweit ein labour/employment law team aufweisen kann. Und meiden Sie Firmen, die „allgemein beraten“ und nebenbei auch noch Arbeitsrecht anbieten – es gibt da einige globale Beratungsunternehmen, die ihr „eigentliches“ Beratungs-Sujet recht gut beherrschen – Punkt. • Für hochspezielle Themen – Altersversorgung, Datenschutzrecht, Arbeitnehmererfindungsrecht, nur als Beispiele – gibt es auch tatsächlich einige (wenige) Spezialisten. Große Arbeitsrechtskanzleien oder sehr große Allroundkanzleien haben zumeist auch einen solchen Super-Spezialisten – es gibt hier aber auch ganz hervorragende – wenige! – Boutiquen.

personalmagazin Kanzleien 2024 Von Tim Kniepkamp Digitale Einigung im Kündigungsszenario

9 Legal Tech Eine Klage nach Kündigung ist teuer und dauert lang. Am Ende einigen sich die Parteien in über 90 Prozent der Verfahren. Das Unternehmen Suitcase GmbH möchte diesen Prozess verschlanken. Es bietet ein digitales Schlichtungsverfahren, das den Rechtsstreit in wenigen Tagen verbindlich beilegt. Die Idee zum Startup Suitcase entstand im Sommer 2020. Die Gründer Tim Fischer und Tim Kniepkamp kannten sich über einen studentischen Wettbewerb für Juristen. Sie trafen sich in Düsseldorf mit einem befreundeten Rechtsanwalt aus Brasilien. Fast beiläufig zeigt er ihnen eine App für digitale Gerichtsverfahren. Als privater Richter verdiente er sich ein Nebeneinkommen. „Wir waren sofort beeindruckt und haben das Potenzial für den deutschen Rechtsmarkt gesehen.“, sagt Co-Founder Tim Fischer. Noch an dem Abend waren der Firmenname „Suitcase“ und der Slogan „Dispute resolution suitable to your case“ geboren. Parallel zum Studium begannen die Gründer, sich den Markt der Streitbeilegung näher anzuschauen und stießen auf ein Problem von enormer Tragweite: Seit 1995 ging die Zahl der Klagen bei den Arbeitsgerichten laut Bundesamt für Justiz um 59 Prozent zurück. Menschen setzten ihre Rechte unter 2.700 Euro nicht mehr gerichtlich durch. Und das Problem würde sich bis 2030 verstärken, indem 27,5 Prozent der Richter bundesweit in Pension gingen. Suitcase: Plattform ideal für Kündigungssachverhalte Damit blieb die Frage offen: Wie kann man dieses Problem lösen? „Uns war klar, dass wir die Gerichte nicht verSuitcase erstellt. Er orientiert sich an der Regelabfindung im Sinne von § 1a Kündigungsschutzgesetz (KSchG). So unterstützt die Plattform insbesondere Menschen ohne Rechtskenntnisse. Damit beide Seiten ehrliche Angebote machen, setzt Suitcase auf Vertraulichkeit: Nur das System kennt die Summen und gleicht sie mit einem Algorithmus ab. Kommt eine Einigung zustande, liefert Suitcase den individuellen Vertrag, um die Kündigung abzuwickeln. Damit wird der Konflikt rechtssicher beigelegt. Dieser Prozess dauert in der Regel nur wenige Tage – vor Gericht sind es mehrere Monate. Während die digitale Streitbeilegung hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt, ist das Konzept blinder Gebote (engl. Double Blind Bidding) in den USA seit Anfang der 2000er-Jahre am Markt etabliert. So konnte allein der US-Anbieter Cybersettle über 200.000 Rechtsstreitigkeiten im Umfang von über einer Milliarde USD erfolgreich klären. Die Einigungsquote lag bei 67 Prozent binnen weniger Wochen. Dienstleistung für HRAbteilungen Das Geschäftsmodell beschreiben die Gründer als Justice-as-a-Service. Dahinter steht die Idee, Streitbeilegung – das Kerngeschäft der Justiz – als eine private, digitale Dienstleistung anzubieten. ändern können. Das ist die Aufgabe des Gesetzgebers und der Justiz. Und so entschieden wir uns, eine echte Alternative zu den Gerichten zu entwickeln“, erinnert sich Co-Founder Tim Kniepkamp. Die Juristen erprobten verschiedene Mechanismen der Streitbeilegung und holten den Informatiker Philipp Hertel ins Team. In einem Buch stießen sie letztlich auf ein innovatives Konzept zur Schlichtung, das besonders hohe Einigungsquoten versprach. Das Konzept erschien ideal für Kündigungssachen, die besonders kostenintensiv und einigungsfreudig sind. Im Frühjahr 2023 stiegen die Gründer in Vollzeit ein und zogen für das Unternehmen nach München. Dort werden sie seither vom Zentrum für Gründung und Innovation in Europa, der Unternehmertum GmbH und einer Initiative des Bayrischen Justizministeriums gefördert. Wie funktioniert die digitale Streitbeilegung? Suitcase prüft nicht, ob die Kündigung rechtens ist; dafür sind Gerichte zuständig. Stattdessen setzt das Startup bei den Interessen der Parteien an: Was würde der Arbeitnehmer akzeptieren, um nicht vor Gericht zu ziehen? Was wäre der Arbeitgeber bereit zu zahlen, um nicht verklagt zu werden? Um sich auf ein Gebot festzulegen, erhalten die Parteien einen Einigungsvorschlag von

10 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024 Der Service richtet sich bewusst nicht an Endkunden, sondern Firmenkunden. „Das Endkundengeschäft wäre bei uns besonders aufwendig. Wir hätten extrem hohen Aufwand im Marketing fahren müssen. Außerdem haben Menschen selten einen Rechtsstreit, sodass sie uns nicht als Kunden erhalten geblieben wären.“, erklärt Co-Founder Philipp Hertel (28). Gegen einen B2BAnsatz sprach, dass das Marktsegment zu wenig passende Streitfälle bereithielt. Am Ende entschieden sich die Gründer für einen Hybris: B2B2C. Sie vertreiben das Produkt an Firmenkunden, die viele Streitigkeiten nach Kündigungen von Arbeitsverhältnissen bearbeiten. Hierzu zählen insbesondere Rechtsschutzversicherungen, Kanzleien im Arbeitsrecht und HR-Abteilungen. Die Nutzer auf der Plattform sind hingegen Privatpersonen. Diese Kombination erlaubt es dem jungen Unternehmen, die Marketingkosten und die Kundenabwanderungsrate gering zu halten. Das wirkt sich positiv auf die Kunden aus: Die Kosten einer Schlichtung mit Suitcase liegen bis zu 80 Prozent unter den Kosten eines Verfahrens vor dem Arbeitsgericht. Das Unternehmen ist im März 2024 offiziell an den Markt gegangen. Seitdem konnte es bereits zwei bekannte Rechtsschutzversicherer von sich überzeugen. Auch mehrere Boutique Kanzleien, die allesamt vom Magazin „Wirtschaftswoche“ als Top Kanzleien im Arbeitsrecht für 2024 geführt werden, zählen zu den Kunden. Digitale Schlichtung spart Kosten und Zeit Damit bleibt eine wichtige Frage offen: Warum sollten sich Arbeitgeber auf Suitcase einlassen? Eine häufige Frage, wie die Gründer anmerken. „Wir können niemand dazu zwingen, unsere Plattform zu besuchen. Unsere Schlichtung ist freiwillig. Zugleich liefern wir für beide Seiten einen wirtschaftlichen Anreiz.“, betont Co-Founder Tim Kniepkamp. Beide Seiten profitieren von einer erheblichen Kostenersparnis. Der Grund ist § 12a Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). aushandeln. Dieser Prozess ist jedoch arbeitsintensiv und verspricht geringere Chancen einer schnellen Einigung“, resümiert Co-Founder Tim Fischer. Ausblick: Schnelle Konfliktlösung in rechtlichen Streitigkeiten Suitcase hat sich ein langfristiges Ziel gesetzt: Möglichst vielen Menschen zu ihrem Recht verhelfen. Eine wichtige Komponente ist daher, die Plattform so einfach wie möglich nutzbar zu machen. Arbeitnehmer sollen ohne Rechtskenntnis einen Fall eröffnen können. „Steuersoftware hilft uns, ohne Steuerberater Geld schnell und einfach vom Finanzamt zurückzuholen. Mit Suitcase lösen Sie Ihren Rechtsstreit ohne Anwalt. Wer sich besser beraten fühlt, kann natürlich einen Juristen hinzuziehen.“, betont CoFounder Tim Fischer. Auf diese Weise trägt Suitcase dazu bei, die Gerichte zu entlasten. Angesichts der Pensionierungswelle und der hohen Einigungsbereitschaft vor dem Arbeitsgericht kann Suitcase eine signifikante Unterstützung leisten. Patent für KI-Einsatz beantragt Aktuell erforscht Suitcase den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und hat hierzu ein Patent beantragt. Zukünftig werden die Unterlagen der Parteien automatisch analysiert. So kann der Arbeitnehmer den Fall mit wenigen Klicks eröffnen und die Parteien werden dabei unterstützt, einen fairen Kompromiss zu finden. „Künstliche Intelligenz hilft schon heute, Krankheiten früh zu erkennen. In Zukunft wird sie Menschen dabei helfen, schnell und unkompliziert ihren Rechtsstreit zu lösen.“, erklärt CoFounder Philipp Hertel (28). Besonders wichtig ist den Gründern, zu betonen, dass Künstliche Intelligenz den Menschen nicht verdrängt. Sie ist vielmehr dazu gedacht, den Konfliktpartnern juristische Fragen abzunehmen und sich schneller zu einigen. Ganz ohne den Menschen geht es also (noch) nicht – und das ist auch gut so. Die Vorschrift besagt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer für ihre Anwaltskosten in der ersten Instanz selbst aufkommen müssen – unabhängig davon, ob sie gewinnen oder verlieren. Für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin bedeutet es netto einen Verlust von 10 bis 20 Prozent der Abfindung. Für den Arbeitgeber entsteht ein Aufschlag in derselben Höhe. Ein weiterer Faktor ist die Zeitersparnis. Suitcase verkürzt den Einigungsprozess um mehrere Monate. Hinzu kommt der geringe Arbeitsaufwand. Einen Fall zu eröffnen bzw. zu prüfen, dauert nur wenige Minuten. Die Kommunikation mit beiden Seiten übernimmt Suitcase. Und der individuelle Vertrag wird automatisch erstellt. Das entlastet HR-Abteilungen und Rechtsanwälte. „Sicher können die Konfliktpartner auch direkt miteinander eine Abfindung TIM KNIEPKAMP ist Co-Founder und Geschäftsführer der Suitcase GmbH in München. Er absolvierte seine juristische Ausbildung in Bielefeld, Berlin und London und mit praktischen Stationen in internationalen Wirtschaftskanzleien sowie am Europäischen Gerichtshof.

12 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024 Lange war es einigermaßen still um das Thema AGG-Hopping. In jüngster Zeit lässt sich beobachten, dass Arbeitsgerichte wieder vermehrt mit dem Thema beschäftigt sind. Was ist aus Sicht des betrieblichen Praktikers zu beachten? Von Thomas Niklas und Lisa-Lorraine Christ, LL.M. In regelmäßigem Abstand liest man in den einschlägigen arbeits- und personalrechtlichen Zeitschriften von neuen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen zu AGG-Hoppern. Diese werden allgemein definiert als Personen, die sich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zunutze machen, indem sie sich gezielt auf Stellen bewerben, ohne tatsächlich an einer Anstellung interessiert zu sein. Ziel ist es, abgelehnt zu werden, um sodann mittels arbeitsgerichtlicher Schritte gegen das Unternehmen Schadensersatz- und/oder Entschädigungsansprüche aufgrund einer vermeintlichen Diskriminierung geltend zu machen. Die Taktik von AGG-Hoppern besteht darin, potenzielle Diskriminierungsfälle zu identifizieren, indem sie beispielsweise auf ungleiche Behandlungen bei Einstellungen, Beförderungen oder Entlassungen sowie auf unangemessene Verhaltensweisen am Arbeitsplatz achten. Sobald ein solcher Fall festgestellt wird, leiten sie die genannten rechtlichen Schritte ein. Obwohl es keine kontinuierlichen oder spezifischen Daten darüber gibt, wie häufig AGG-Hopper in der Praxis vorkommen, bleibt die Frage der Missbrauchsmöglichkeiten des AGG stets ein Thema, das Unternehmen und Rechtsexperten beMann mit Berufswunsch Bürokauffrau schäftigt. Auch die gerichtliche Praxis hat sich regelmäßig und erst kürzlich wieder vermehrt mit der Thematik auseinandergesetzt. Ausgangspunkt AGG Gesetzlicher Ausgangspunkt ist das AGG, welches unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale verhindern und gleiche Chancen sicherstellen soll. Es verbietet unter anderem die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuellen Orientierung (§§ 1, 7 AGG). Nur in Ausnahmefällen können Ungleichbehandlungen aufgrund beruflicher Anforderungen, der Religion oder Weltanschauung oder des Alters gerechtfertigt sein (§§ 8 bis 10 AGG). Vom Geltungsbereich des AGG umfasst sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern – wie im Falle eines AGG-Hoppers regelmäßig relevant – auch Bewerber (siehe § 6 AGG). Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot kann nach § 15 Abs. 1 AGG ein Schadensersatzanspruch sowie nach

13 AGG-Hopping nicht ernst gemeinter Werbespruch zu interpretieren. Zudem beschreibe der Begriff „jung“ einen flexiblen Begriff, der relativ sei und keine spezifische Altersgruppe bezeichne. „Digital Native“ Demgegenüber nahm das Arbeitsgericht Heilbronn in einer Entscheidung vom 18. Januar 2024 (Az. 8 Ca 191/23) eine Diskriminierung und in der Folge einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG an. Der Kläger, ein 1972 geborener Diplom-Wirtschaftsjurist mit jahrelanger Führungsverantwortung, hatte sich als „Manager Corporate Communication (m/w/d) Unternehmensstrategie“ beworben. In der Stellenanzeige hieß es: „Als Digital Native fühlst Du Dich in der Welt der Social Media, der Daten-getriebenen PR, des Bewegtbilds und allen gängigen Programmen für DTP, CMS, Gestaltung und redaktionelles Arbeiten zu Hause“. Nachdem der Kläger abgelehnt worden war, machte er einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 37.500 Euro geltend. Das Gericht bejahte den geltend gemachten Anspruch und sprach dem Kläger eine Entschädigungszahlung zu, wenn auch „nur“ in Höhe von 7.500 Euro. Die Formulierung in einer Stellenanzeige als „Digital Native“ stelle nach Auffassung des Gerichts ein Indiz für eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters dar. Durch die Ablehnung sei der Kläger auch unmittelbar benachteiligt worden. Die hiergegen beim LAG Baden-Württemberg seitens des Unternehmens eingelegte Berufung (Az. 17 Sa 2/24) steht noch aus. Aber auch: Verstoß gegen Verfahrensvorschriften Aber nicht nur Stellenanzeigen können Anlass für die Geltendmachung von Ansprüchen nach dem AGG und damit ein Einfallstor für AGG-Hopper sein. Nach der ständigen Rechtspre- § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, ein Entschädigungsanspruch („Schmerzensgeld“) geltend gemacht werden. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. In der Praxis von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass anspruchsberechtigten Personen eine Beweiserleichterung nach § 22 AGG zugutekommt. Gelingt es ihnen, Indizien zu beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei, namentlich der Arbeitgeber, die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Das vielfach entscheidende Einfallstor für AGG-Hopper sind diskriminierende Stellenausschreibungen, die regelmäßig die Gerichte beschäftigen. „Junges dynamisches Team mit Benzin im Blut“ In einer Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 17. Oktober 2023 (Az. 2 Sa 61/23) ging es um einen 50-jährigen IT-Systemtechniker, der sich auf die Stellenanzeige einer Tankstelle beworben hatte. Die Tankstelle hatte sich dort als „junges dynamisches Team mit Benzin im Blut“ präsentiert. Ohne Angabe von Gründen lehnte die Tankstelle die Bewerbung des IT-Systemtechnikers ab und stellte stattdessen einen 48 Jahre alten Mitbewerber ein. Der abgelehnte IT-Systemtechniker forderte daraufhin eine Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von 1,5 Bruttomonatsgehältern wegen vermeintlicher Altersdiskriminierung. Letztlich ohne Erfolg. Dem Kläger sei es nicht gelungen, Indizien darzulegen, die eine unzulässige Benachteiligung aufgrund des Alters vermuten ließen. Die Formulierung „junges Team mit Benzin im Blut“ in der Stellenanzeige sei lediglich als übertriebener, ironischer und

14 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024 chung des BAG begründet auch ein Verstoß gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Diese Pflichtverletzungen sind – so das BAG – nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein. Der Achte Senat sprach in einer entsprechenden Entscheidung vom 14. Juni 2023 (Az. 8 AZR 136/22) einem schwerbehinderten Bewerber eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung aufgrund einer Schwerbehinderung zu. Der Kläger hatte sich unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung auf die bei der Beklagten ausgeschriebene Stelle eines „Scrum Master Energy (m/w/d)“ beworben und wurde abgelehnt. Den geltend gemachten Entschädigungsanspruch begründete er damit, dass die Beklagte verschiedenen ihr obliegenden Pflichten aus dem SGB IX, insbesondere der Information des Betriebsrats über seine Bewerbung nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, nicht nachgekommen sei. Das BAG folgte der Auffassung des Klägers. Um die Vermutung nach § 22 AGG zu widerlegen, hätte der Arbeitgeber nachweisen müssen, dass der erfolglose Bewerber eine formale Qualifikation nicht aufgewiesen oder eine formale Anforderung nicht erfüllt hätte, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit oder des Berufs gewesen wäre. Dies sei jedoch nicht erfolgt. Führt man sich vor Augen, dass die entsprechenden Verfahrenspflichten in der Praxis oftmals nur wenig Beachtung erfahren, stellt dies für Unternehmen ein erhebliches Risiko dar. Einwand des Rechtsmissbrauchs Eine mögliche Verteidigung von Unternehmen gegen die Forderung von Schadensersatz- und/oder Entschädigungsansprüchen durch AGG-Hopper ist der Einwand des Rechtsmissbrauchs nach § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Dieser ist anzunehmen, sofern sich eine Person nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihr einzig und allein darum ging, Ansprüche auf Schadensersatz und/oder Entschädigung geltend zu machen. Die Hürden für eine erfolgreiche Geltendmachung dieses Einwands in der Praxis sind jedoch hoch. Denn nicht jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten führt stets oder auch nur regelmäßig zur Unzulässigkeit der Ausübung der hierdurch erlangten Rechtsstellung. Nur dann, wenn sich der Anspruchsteller die günstige Rechtsposition gerade durch treuwidriges Verhalten verschafft hat, liegt eine unzulässige Rechtsausübung im Sinne von § 242 BGB vor. Die Rechtsprechung verlangt hierfür das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements. Hinsichtlich des objektiven Elements muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der in der betreffenden Unionsregelung vorgesehenen Bedingung, welche dem AGG zugrunde liegt, das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde. In Bezug auf das subjektive Element muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte die Absicht ersichtlich sein, sich einen ungerechtfertigten Vorteil aus der Unionsregelung dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Zu berücksichtigen sind hierbei sämtliche Umstände des Einzelfalls. Hierzu gehören bei AGG-Hoppern insbesondere sämtliche Schreiben des Bewerbers und auch sein Verhalten im Zusammenhang mit seiner Bewerbung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Stellenausschreibung. Kann das fragliche Verhalten eine andere Erklärung haben als nur die Erlangung eines Vorteils, ist das Missbrauchsverbot nicht relevant. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen, die den Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen, trägt nach den allgemeinen Regelungen der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast der Arbeitgeber. Die Darlegungslast ist jedoch abgestuft. Hat das Unternehmen hinreichende Tatsachen vorgetragen, die den Rechtsmissbrauch indizieren, so muss sich der Bewerber hierzu substantiiert, das heißt mit näheren positiven Angaben, äußern; mit bloßem schlichten Bestreiten darf er sich regelmäßig nicht begnügen. LAG Hamm schiebt AGG-Hoppern einen Riegel vor In einer aktuellen Entscheidung vom 5. Dezember 2023 (Az. 6 Sa 896/23) hat das LAG Hamm erfreulicherweise einem AGG-Hopper einen Riegel vorgeschoben. In dem zugrunde liegenden Fall hatte sich ein ausgebildeter Industriekaufmann in der Vergangenheit mit weitgehend identischen Nachrichten auf eine Vielzahl von Stellenausschreibungen für eine „Sekretärin“ beworben und im Anschluss Entschädigungsprozesse wegen einer vermeintlichen Benachteiligung aufgrund des Geschlechts geführt. Nachdem mehrere Klagen wegen Rechtsmissbrauchs abgewiesen worden waren, passte der Kläger seine Anschreiben und sein vorprozessuales Verhalten entsprechend an. Im Januar 2023 bewarb er sich auf eine Stellenanzeige als „Die Trauben für die erfolgreiche Durchsetzung des Einwands des Rechtsmissbrauchs hängen beim AGGHopping nach wie vor hoch.“ Fotos: Fotostudio Balsereit

15 AGG-Hopping „Bürokauffrau/Sekretärin“ bei der Beklagten. Nachdem er hierauf keine Rückmeldung erhalten hatte, erhob er Klage auf Geltendmachung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Wie schon die erste Instanz nahm das LAG Hamm jedoch an, dass der Geltendmachung der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstehe. Objektive Anzeichen für diese Annahme ergäben sich neben der Entfernung zwischen Wohnort und potenzieller Arbeitsstelle (= rund 170 Kilometer), dem Inhalt und der Art und Weise der Bewerbung (Rechtschreib- und Grammatikfehler, die ihn als Bürokraft ungeeignet auswiesen, sowie Fehlen von aussagekräftigen Unterlagen, wie etwa Zeugnissen) sowie der Unvereinbarkeit einer Vollzeitstelle mit dem vom Kläger nach eigenen Angaben aufgenommenen Vollzeitstudium zum Wirtschaftsjurist, insbesondere aus dem Umstand, dass der Kläger sich auf eine Vielzahl entsprechender Stellen beworben und sein „Geschäftsmodell“ gezielt an aus Vorprozessen gewonnene Erkenntnisse angepasst habe. Auch das subjektive Element für einen Rechtsmissbrauch liege vor. Dieses ergebe sich zum einen aus den genannten objektiven Umständen. Zum anderen habe der Kläger bis zuletzt nichts vorgetragen, aus dem sich ein anderes Motiv für die Bewerbung auf die konkrete Stelle als die Geltendmachung von Entschädigungszahlungen ergebe. Strafbarkeit Neben dem Einwand des Rechtsmissbrauchs sollten Unternehmen bei dem dringenden Verdacht eines AGG-Hoppers auch stets eine Strafanzeige in Erwägung ziehen. Schließlich können Bewerbungen auf diskriminierende Stellenangebote mit dem (alleinigen) Ziel, einen Entschädigungsanspruch zu erlangen, einen strafbaren Betrug im Sinne von § 263 StGB darstellen. Wie der BGH in einer Entscheidung vom 4. Mai 2022 (Az. 1 StR 3/21) festgestellt hat, ist dies dann der Fall, wenn der AGG-Hopper damit rechnet, dass durch sein Vorbringen die auf Beklagtenseite auftretenden Personen getäuscht werden und diese irrtumsbedingt zu einer Vermögensverfügung veranlasst werden. In Fällen, in denen der Arbeitgeber im Verfahren den Rechtsmissbrauchseinwand erhoben hat, liegt eine Täuschung nach Auffassung des Gerichts durch ausdrückliche Erklärung vor, wenn der AGG-Hopper dieses Vorbringen explizit bestritten und sich nicht nur auf die Beweislastregelungen zurückgezogen hat. Gleiches soll gelten, wenn der AGG-Hopper im Prozess vorträgt, er habe sich subjektiv ernsthaft beworben. Handlungsempfehlungen für die Praxis Zur Vorbeugung von AGG-Klagen sowie im Umgang mit AGGHoppern sollten Unternehmen Folgendes beachten: • Mitarbeiter – insbesondere im Personalbereich – sollten regelmäßig zu den Grundsätzen des AGG geschult und für potenzielle Diskriminierungssituationen sensibilisiert werden. Hierzu können auch Verhaltensrichtlinien beitragen. Dies ermöglicht es, potenzielle Diskriminierungsfälle frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. • Relevante Entscheidungen und Prozesse sollten schriftlich festgehalten und sorgfältig dokumentiert werden („Dokumentation und Transparenz“). Nur dies ermöglicht es, sich erfolgreich gegen eine AGG-Klage zu verteidigen. • Des Weiteren sollten regelmäßig Risikobewertungen durchgeführt werden, um potenzielle Diskriminierungsrisiken im Unternehmen zu identifizieren. Dies gilt insbesondere für Einstellungs-, Beförderungs- und Entlassungsverfahren. • Beschwerden über mögliche Diskriminierungen sollten ernst genommen und darauf angemessen und transparent reagiert werden. • Besteht der Verdacht einer missbräuchlichen Geltendmachung von Schadensersatz- und/oder Entschädigungsansprüchen, sollten Arbeitgeber auf entsprechende Forderungen hin schon außergerichtlich die ausdrückliche Frage nach der Ernsthaftigkeit der Bewerbung stellen und die Antwort dokumentieren. Im Fall der gerichtlichen Geltendmachung sollte sodann der Einwand des Rechtsmissbrauchs erhoben werden. Denn dieser zwingt den Anspruchsteller dazu, „Farbe zu bekennen“ und erhöht mithin den – auch strafrechtlichen – Druck auf den mutmaßlichen AGG-Hopper. Fazit: Mögliche Angriffsflächen vermeiden Das Risiko aus Unternehmenssicht, Opfer von AGG-Hoppern zu werden, ist nach wie vor hoch. Und die Möglichkeiten, sich gegen entsprechende Schadensersatz- und/oder Entschädigungsansprüche mit Erfolg wehren zu können, sind überschaubar. Zwar sieht die Rechtsprechung bisweilen das Problem; die genannte Entscheidung des LAG Hamm stellt insoweit einen Lichtblick dar, der hoffen lässt. Gleichwohl hängen die Trauben für die erfolgreiche Durchsetzung des Einwands des Rechtsmissbrauchs nach wie vor hoch. Umso wichtiger ist es in der Praxis, mögliche Angriffsflächen sorgsam im Blick zu behalten und jeglichen Anschein diskriminierender Verhaltensweisen von vornherein zu vermeiden. LISA-LORRAINE CHRIST, LL.M. ist Rechtsanwältin bei Küttner Rechtsanwälte und berät schwerpunktmäßig Unternehmen bei der laufenden Personalarbeit und sämtlichen Fragen im Zusammenhang mit Digitalisierung sowie im Bereich Datenschutz. THOMAS NIKLAS ist Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Küttner Rechtsanwälte und verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Vorbereitung und Durchführung von Outsourcing- und Restrukturierungsvorhaben.

Kanzleien im Arbeitsrecht Das Bundesarbeitsgericht hat im vergangenen Jahr wieder einige wegweisende Urteile und Beschlüsse erlassen: Es gab 2023 eine ganze Reihe von Entscheidungen, die für die tägliche Personalpraxis von hoher Bedeutung sind. Ein Überblick über die wichtigsten Urteile des Jahres. Von Frank Bollinger Urteile des Jahres 2023 Illustration: Lea Dohle 16 personalmagazin Kanzleien 2024

Rechtsprechungsrückblick Teilzeitbeschäftigten steht bei gleicher Tätigkeit derselbe Lohn zu Ein Rettungsassistent, der auf geringfügiger Basis beschäftigt ist, muss bei gleicher Tätigkeit auch gleich wie seine in Vollzeit- oder Teilzeit beschäftigten Kollegen bezahlt werden. Die Gründe des Arbeitgebers für die Ungleichbehandlung bei der Bezahlung (größere Planungssicherheit und weniger Planungsaufwand bei den hauptamtlichen Rettungsassistenten) ließ das höchste Arbeitsgericht Deutschlands nicht gelten. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Januar 2023, Az. 5 AZR 108/22 Arbeitnehmer tragen die Darlegungslast bei einer Fortsetzungserkrankung Wird ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, hat er nach § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit nur dann einen Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Sechs-Wochen-Zeitraum, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist. Arbeitnehmer müssen im Falle eines Streits über das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung offenlegen, welche Beschwerden welche Folgen für die Arbeitsfähigkeit hatten, und sind zudem verpflichtet, die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Januar 2023, Az. 5 AZR 93/22 Urlaubsabgeltung unterliegt der üblichen Verjährung Gesetzlicher Urlaub, der – auch über mehrere Jahre hinweg – nicht genommen wurde, darf ohne vorherigen Hinweis des Arbeitgebers nicht verfallen und kann auch nicht einfach verjähren. Doch was ist mit den Urlaubsabgeltungsansprüchen? Diese verjähren gemäß § 195 BGB nach drei Jahren. Auch ohne Hinweis des Arbeitgebers beginnt die Frist in der Regel mit dem Ende des Jahres, in dem der Beschäftigte das Unternehmen verlässt, entschied das BAG. Ausnahmen gelten nur für frühere Ansprüche vor der Änderung der Rechtsprechung zum Urlaubsverfall. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Januar 2023, Az. 9 AZR 456/20 Entgeltgleichheit von Männern und Frauen ist keine Verhandlungssache Für gleiche oder gleichwertige Arbeit hat eine Frau Anspruch auf gleiches Entgelt, wenn der Arbeitgeber männlichen Kollegen aufgrund des Geschlechts ein höheres Entgelt zahlt. Dass es dem männlichen Kollegen gelungen ist, in den Gehaltsverhandlungen ein höheres Gehalt auszuhandeln, ändert daran nichts. Eine Entgeltbenachteiligung einer Frau aufgrund des Geschlechts wird nach § 22 AGG vermutet, wenn sie darlegt und beweist, dass ihr Arbeitgeber ihr trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein niedrigeres Entgelt zahlt als ihren vergleichbaren männlichen Kollegen. BAG, Beschluss vom 13. September 2022, Az. 1 ABR 22/21 17

Von dem Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer für die Dauer ihrer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare festangestellte Beschäftigte des Entleihers haben („equal pay“), kann nach § 8 Abs. 2 AÜG ein Tarifvertrag „nach unten“ abweichen. Der Verleiher muss dem Leiharbeitnehmer also nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen. Das ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn der Tarifvertrag die niedrigere Bezahlung durch angemessene andere Vorteile kompensiert. Laut BAG ist der Gesamtschutz im Tarifvertrag unter anderem dadurch gewahrt, dass sowohl bei unbefristeten als auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten stattfindet. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Mai 2023, Az. 5 AZR 143/19 Kein Equal Pay für Leiharbeiter Bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit sind verschieden hohe Zuschläge zulässig Tarifverträge dürfen für gelegentliche Nachtarbeit höhere Zuschläge vorsehen als für regelmäßige Nachtarbeit. Das hat das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil entschieden, nachdem zuvor der Europäische Gerichtshof verkündet hatte, dass die EU-Charta bei der Beurteilung dieser Streitfrage keine Anwendung findet und der Fall damit keine Frage des Europäischen Rechts sei. Die Ungleichbehandlung muss laut BAG aber durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Februar 2023, Az. 10 AZR 332/20 Arbeit auf Abruf: Ohne vertragliche Regelung gelten 20 Wochenstunden als vereinbart Wird bei Arbeit auf Abruf keine wöchentliche Arbeitszeit im Arbeitsvertrag vereinbart, greift die gesetzliche Regelung des § 12 Abs. 1 TzBfG. Nur in Ausnahmefällen kann davon abgewichen werden. Für die Annahme einer höheren Wochenarbeitszeit genügt es nicht, dass der Arbeitgeber dieses höhere Stundenkontingent innerhalb eines bestimmten Zeitraums regelmäßig abgerufen hat. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Oktober 2023, Az. 5 AZR 22/23 Kein Verwertungsverbot für Videoaufzeichnungen aus offener Überwachung Aufzeichnungen einer offenen Videoüberwachung dürfen im Kündigungsschutzprozess herangezogen werden, um vor- sätzliches Fehlverhalten von Beschäftigten zu beweisen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. Juni 2023, Az. 2 AZR 296/22 18 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024

FRANK BOLLINGER ist Redakteur beim Personalmagazin und beobachtet die arbeitsrechtliche Rechtsprechung. Verfahrensfehler im Bewerbungsverfahren begründen eine Diskriminierung schwerbehinderter Bewerber Arbeitgebern drohen Entschädigungszahlungen gemäß § 15 AGG, wenn sie Vorschriften, die dem Schutz von Schwerbehinderten dienen, ignorieren. Dafür kann es bereits ausreichen, dass ein abgelehnter Bewerber behauptet, der Arbeitgeber habe den Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet. Da ein Bewerber als Außenstehender hierzu regelmäßig keinen Einblick hat und sich diesen auch zumutbar nicht verschaffen kann, muss er regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte für ein solches Versäumnis darlegen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Juni 2023, Az. 8 AZR 136/22 „ Der Richter ist der eigentliche Herr über das Arbeitsrecht“, so der Göttinger Arbeitsrechtsprofessor Franz Gamillscheg im Jahr 1964. Das stimmt umso mehr, je untätiger der Gesetzgeber bleibt. Beweiswert einer Arbeits- unfähigkeitsbescheinigung ist hoch Legt ein gekündigter Arbeitnehmer eine Krankschreibung vor, die genau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses reicht, mag das dem ein oder anderen Arbeitgeber verdächtig vorkommen. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt jedoch aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Um diesen zu erschüttern, müsste ein Arbeitgeber konkrete Umstände aufzeigen, die geeignet sind, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen. Der bloße Verdacht einer nicht ordnungsgemäßen Diagnose genügt dazu jedoch ebenso wenig wie der Einwand, die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit lasse sich auch trotz der diagnostizierten Erkrankung noch erbringen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. Juni 2023, Az. 5 AZR 335/22 19 Rechtsprechungsrückblick

20 Kanzleien im Arbeitsrecht personalmagazin Kanzleien 2024 Alle warten auf eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeiterfassung, doch die lässt auf sich warten. Sicher ist: An betrieblichen Regelungen zur Arbeitszeiterfassung führt kein Weg vorbei. Lediglich die genaue Umsetzung kann der Gesetzgeber definieren. Wie eine langfristige betriebliche Arbeitszeitstrategie gelingen kann. Von Andreas Hoff Eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeiterfassung ist weiterhin nicht in Sicht – und angesichts der völlig unterschiedlichen Auffassungen zum Arbeitszeitschutz insbesondere von SPD und FDP darf sogar bezweifelt werden, ob es mit dieser Regierung noch eine solche geben wird. Aus diesem Grund geht dieser Text auch nicht näher auf den seit April 2023 (!) bekannten, in der Regierungskoalition jedoch äußerst umstrittenen Referentenentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium ein. Unabhängig davon ist die Rechtslage seit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Beschluss vom 13.9.2022, Az. 1 ABR 22/21) aber sonnenklar: Die Arbeitgeber sind verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit ihrer im Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) befindlichen Beschäftigten aufzuzeichnen. Anders kann die Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten nicht überprüft werden, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) Status quo bei der Arbeitszeiterfassung schon 2019, aus meiner Sicht völlig zu Recht, festgestellt hat. Dabei geht es hierzulande um diese vier Grenzwerte: 1. die Tages-Höchstarbeitszeit von grundsätzlich – weil es diesbezüglich ebenso wie hinsichtlich der anderen Grenzwerte eine Vielzahl gesetzlicher Ausnahmen gibt – zehn Stunden (nicht, wie leider immer wieder zu lesen ist, acht Stunden); 2. die Wochen-Höchstarbeitszeit von 48 Stunden, die jedoch grundsätzlich nur im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten einzuhalten ist – und deshalb in der einzelnen Woche auch einmal deutlich über 48 Stunden hinausgehen darf; 3. die Mindestruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von grundsätzlich elf Stunden; und 4. die Mindestruhezeit pro Sieben-Tage-Zeitraum – also nicht zwingend pro Kalenderwoche – von 24 Stunden, die grundsätzlich zusammen mit der täglichen Ruhezeit zu gewähren ist und daher grundsätzlich 35 Stunden beträgt.

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