Seite 64 - wirtschaft_und_weiterbildung_2013_05

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64
wirtschaft + weiterbildung
05_2014
„Du brauchst eine Vision!“, höre ich es immer und
immer wieder in den Treppenhäusern der Weiter-
bildungsindustrie schallen. Mit glänzenden und
aufgerissenen Augen beschreiben Menschen das
Bild einer Zukunft. Aber was ist eine Vision? Worin
unterscheiden sich Halluzination, Illusion, psyche-
delische Träume und Wünsche von einer echten,
handfesten Vision?
Was eine Vision ausmacht, können wir von Visi-
onären lernen. Der Vater der Vision ist wohl
Mahatma Gandhi. Seine Vision lautete: Ich werde
Indien gewaltlos befreien. Van Gogh wollte unbe-
dingt „das perfekte Bild“ malen und Steve Jobs
„eine Delle ins Universum“ hauen.
Haben Sie einen Traum, bei der jede Zelle Ihres
Körpers nach Erfüllung schreit, auch wenn es Ihre
ganze Kraft kosten wird? Wissen Sie tief in Ihrem
Inneren, dass nichts und niemand Sie aufhalten
wird? Glückwunsch! Sie haben eine Vision. Aber:
Wie viele Menschen kennen Sie, die eine Vision
haben? Und wie viele Menschen kennen Sie, die
über Visionen reden? Es gilt: Eine Vision lässt sich
durch Ergebnisse erkennen.
Woher kommt dieser Hype über Visionen? Natür-
lich entfacht eine Vision unglaubliche Kraft. Ganze
Heerscharen von Trainern wiederholen das Mantra
von der Notwendigkeit einer Vision. Sie trichtern
anderen ein, dass allein die Kraft einer großen
Idee ihnen Siebenmeilenstiefel verleiht, in denen
der Weg zum Ziel ein flotter Spaziergang wird. Nur
wenn man ihre eigenen Ergebnisse ansieht, spie-
geln diese alles andere als eine Vision wider. Trotz-
dem sind Visionsfindungen zu einem lukrativen
Geschäftsmodell geworden.
Wir kennen das Szenario: Um eine Vision zu fin-
den, zieht sich die Führungselite auf ihren Berg
Sinai zurück. Sie feilt an den Zehn Geboten und
meißelt sie in Stein. Danach wird die scheinbare
Vision „top down“ in Workshops vermittelt, im
Internet veröffentlicht und in Bilderrahmen zur
Schau gestellt. Nur wirklich umgesetzt
wird sie spärlich. Es scheint fast sogar:
Je mehr über die Vision geredet wird,
desto weniger wird sie gelebt. Und: Da
Ziele nicht mehr so sexy sind, wird gerne
über Visionen geredet. Die haben etwas
Magisches. Ziele sind dagegen viel zu langweilig
geworden. Doch genau das ist der Fehler. Ziele
sexy machen, das ist die Kunst! „Selbst der
längs­te Weg beginnt mit einem Schritt“, heißt
es bei Laotse. Wer diesen zum Kalenderspruch
mutierten Satz oberflächlich abhakt, irrt gewaltig.
Denn er enthält eine tiefe Erkenntnis.
Laotse benennt beides: den längsten Weg (Ziel/
Überblick) und den Schritt (Hier und Jetzt/Detail).
Er gibt uns eine klare Orientierung: Wisse, wohin
Dein Weg gehen soll, und schaue vor Dir auf den
Weg. Wie die bekannte Geschichte der Großmutter,
die – in Erfüllung ihres Kindheitstraums – zu Fuß
von San Francisco nach New York ging und sagte:
„Ich habe einfach nur den nächsten Schritt getan.“
Ziele können Ihre Schritte beflügeln, aber gehen
müssen Sie dennoch Schritt für Schritt. Wer auf
dem Weg eine Vision findet, der danke Gott. Denn
das ist nur den Wenigsten vorbehalten.
Reden müssen diese Menschen dann bestimmt
nicht darüber, denn ihre Vision wird durch ihre
Handlungen sichtbar. Und wenn Sie keine Vision
haben? Trösten Sie sich. Kaum jemand hat eine,
obwohl viele darüber sprechen.
Paragraf 25
Vorsicht vor Visionen
Boris Grundl ist Managementtrainer, Unternehmer, Autor sowie Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt,
ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung).
Sein neues Buch heißt: „Die Zeit der Macher ist vorbei. Warum wir neue Vorbilder brauchen.“ (Econ Verlag, 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro).
d
Boris Grundl
Wer auf dem Weg zum Ziel eine Vision
findet, der danke Gott. Denn das ist
nur den wenigsten vorbehalten.