Personal Quarterly 1/2023

50 PERSONALquarterly 01 / 23 SERVICE_DIE FAKTEN HINTER DER SCHLAGZEILE Nach dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 besteht für den Arbeitgeber grundsätzlich eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Hintergrund dieses Beschlusses ist das „StechuhrUrteil“ des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019. Danach müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Damit möchte der Gesetzgeber, die Gesundheit von Arbeitnehmenden durch Verhinderung von überlangen Arbeitszeiten schützen. Die große Frage, die sich Unternehmen stellt, ist: Bedeutet der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts die Rückkehr der Stechuhr und damit das Ende der flexiblen Arbeitszeitgestaltung? Medien diskutieren über die Arbeitszeiterfassung Der Spiegel informiert am 13. September 2022: „Arbeitszeiterfassung wird in Deutschland zur Pflicht“.1 Mit der Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung werden die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern massiv gestärkt und der Gesetzgeber gerät in Zugzwang. Das Handelsblatt titelt am 19. September 2022: „Was das Urteil zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitgeber bedeutet“.2 Hier wird erklärt, dass noch Unklarheit darüber besteht, wie genau die Arbeitszeiterfassung umzusetzen sei. Klar ist: Die Arbeitszeiterfassung gilt nun für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also auch solche in leitenden Positionen. Die Wirtschaftswoche behandelte am 24. September 2022 wiederum „Das Dilemma der flexiblen Stechuhr“.3 Klar ist: Im Vordergrund steht der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die zentrale Frage, die sich nun in der Praxis stellt, ist: Was gehört denn überhaupt zur Arbeit? Diese Frage zu beantworten, sei komplizierter als gedacht. Außerdem war auf FAZ.NET am 09. Oktober 2022 zu lesen: „Wie die Stechuhr den Beschäftigten schaden kann“.4 Verdeutlicht wird, dass gerade in Branchen, in denen agiles, mobiles und kreatives Arbeiten dominiert, die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung eine falsche Entscheidung sei. Außerdem besteht in der Praxis Unklarheit darüber, wie flexible Arbeitszeitenregelungen, die dazu führen, dass die vom Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen elf Stunden Ruhezeit nicht eingehalten werden, zu dokumentieren sind. Insgesamt stellt sich also die Frage, wie die Arbeitszeiterfassung in der Praxis so umgesetzt werden kann, dass sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich vor überlangen Arbeitszeiten bewahrt und damit ihre Gesundheit schützt. Der Forschungskontext 3 Bisher wurden vor allem im deutschsprachigen Raum erste querschnittliche Studien (Erhebungen zu einem bestimmten Zeitpunkt) zu der Frage durchgeführt, wie Arbeitszeiterfassung und Länge der Arbeitszeit miteinander in Zusammenhang stehen. 3 In internationalen Zeitschriften sind Studien – darunter auch Reviews und Metaanalysen – zu den Auswirkungen von überlangen Arbeitszeiten auf die Gesundheit unter dem Begriff „Long Working Hours“ zu finden. Die Forschungslage 3 Ein systematisches Reviewhat den Zusammenhang zwischen überlangen Arbeitszeiten und Gesundheit untersucht (Bannai/Tamakoshi, 20145). Die Autoren kommen zu folgenden Ergebnissen: - Es gibt Zusammenhänge von überlangen Arbeitszeiten mit depressiven Zuständen, Angst, kürzerem Schlaf und koronaren Herzkrankheiten. - Es ist wichtig, zwischen dem Einfluss von überlangen Arbeitszeiten und dem Einfluss von Schichtarbeit auf die Gesundheit zu unterscheiden. 3 Eine großangelegte, internationale Metaanalyse (Kivimäki et al., 20156), die auf Daten von über 600.000 Individuen aus Europa, den USA und Australien basiert, zeigt, dass Arbeitnehmende mit überlangen Arbeitszeiten ein erhöhtes Schlaganfallrisiko haben. - In dieser Metaanalyse wurden in den einzelnen Primärstudien überlange Arbeitszeiten unterschiedlich definiert: von ab 45 Stunden pro Woche bis über 55 Stunden pro Woche. Als Vergleichsgruppe wurden diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verwendet, die zwischen 35-40 Stunden pro Woche arbeiteten. In den Medien wird über die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung diskutiert. Was diese Schlagzeilen und Meldungen für Unternehmen bedeuten, überprüft PERSONALquarterly. Ist die flexible Arbeitszeitgestaltung am Ende? Dr. Christina Guthier, Wirtschaftspsychologin in Düsseldorf

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