Personal Quarterly 1/2023

48 ESSENTIALS_REZENSIONEN PERSONALquarterly 01 / 23 Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Wissenschaft mit der Frage, welche arbeitsbezogenen Faktoren die Gleichstellung der Geschlechter in Beruf und Karriere beeinflussen. Nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie hat das Thema wieder an Bedeutung gewonnen. So gibt es Hinweise, dass sich die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern durch ihre Auswirkungen verschärft hat. Viel diskutiert wird in diesen Zusammenhang die Zunahme virtueller Arbeit. Zu den Auswirkungen virtuellen Arbeitens auf die Berufs- und Karrierechancen von Frauen gibt es bereits einige wissenschaftliche Studien.1 Während z. T. positive Effekte gezeigt werden konnten (z. B. bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und verbesserte Work-Life-Balance), finden sich auch Belege für ungünstige Effekte. Isabel Villamor und Kollegen fiel auf, dass in den einzelnen Studien oftmals entweder nur die positiven oder nur die negativen Auswirkungen berücksichtigt werden. Um die Implikationen virtueller Arbeit für die Gleichstellung der Geschlechter wirklich zu verstehen, müssen jedoch beide Seiten gleichermaßen Berücksichtigung finden. Sie werteten insg. 100 Studien zu virtueller Arbeit und den Berufs- und Karrierechancen von Frauen aus und fassten die Ergebnisse zusammen. Auf dieser Grundlage leiteten sie drei Spannungsfelder ab, in denen sich virtuell arbeitende Frauen bewegen. Das erste Spannungsfeld bezieht sich darauf, dass virtuelles Arbeiten Frauen zwar mehr Kontrolle über die Grenze zwischen Arbeit und Nichtarbeit ermöglicht, dabei jedoch auch zu mehr Beeinträchtigungen führen kann. So haben Frauen durch virtuelles Arbeiten mehr Flexibilität in Bezug auf ihren Arbeitsort und können nichtarbeitsbezogene Anforderungen besser bewältigen, was sich positiv auf ihre Work-Life-Balance auswirkt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sich die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit auflösen. Frauen im Homeoffice arbeiten bspw. eher außerhalb normaler Arbeitszeiten und haben größere Schwierigkeiten, sich von der Arbeit zu lösen. Virtuelles Arbeiten – Fluch oder Segen für die Chancen von Frauen? Villamor, I. (The George Washington University School of Business), Hill, N. S., Ernst Kossek, E. (Purdue University, Krannert School of Management) & Foley, K. (2022): Virtuality at work: A doubled-edged sword for women’s career equality? Academy of Management Annals, Advance Online Publication. https://doi.org/10.5465/annals.2020.0384 Das zweite Spannungsverhältnis besteht darin, dass die zunehmende Virtualität die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen sowohl verbessern als auch verschlechtern kann. Durch die Flexibilität bei der Wahl ihres Arbeitsorts können Frauen u. a. Arbeitszeitreduzierungen oder Karriereunterbechungen durch familiäre Umstände vermeiden. Sie können aussichtsreiche Jobs im Ausland annehmen, ohne dass sie mit ihren Familien umziehen müssen. Zudem könnten Frauen auch im Hinblick auf Führungspositionen profitieren, weil ihr kooperativer und partizipativer Führungsstil ihnen hilft, Herausforderungen im virtuellen Arbeitskontext besser zu bewältigen. Auf der anderen Seite zögern Frauen oftmals, Möglichkeiten zu örtlich flexibler Arbeit anzunehmen, weil sie befürchten, stigmatisiert zu werden. Sie lehnen Führungspositionen und Auslandseinsätze möglicherweise eher ab, weil sie mit mehr berufsbedingten Reisen verbunden sind. Das dritte Spannungsfeld bezieht sich darauf, dass die Nutzung technologiegestützter Kommunikationsmittel die soziale Integration von Frauen amArbeitsplatz fördern und gleichzeitig ihre Ausgrenzung begünstigen kann. Über digitale Kommunikationsmittel wie z. B. E-Mails werden weniger soziale Hinweise übertragen, sodass negative Geschlechterstereotype eine geringere Rolle spielen. Dadurch wird u. a. die Beteiligung von Frauen an Diskussionen in ihren Teams verbessert. Soziale Medien erleichtern Frauen zudemden Zugang zu Informationsquellen und Netzwerken, sodass sie mehr Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten bei der Arbeit haben. Dieselben technologiegestützen Kommunikationsmittel können allerdings auch ungünstige soziale Effekte haben. Negativen Geschlechterstereotypen (z. B. „Frauen sind weniger kompetent“) kann weniger gut entgegengewirkt werden. Außerdem können über soziale Medien auch sehr leicht geschlossene informelle Netzwerke gebildet werden, die Frauen ausschließen. Auch wenn die Erkenntnisse noch lange nicht als abgesichert gelten können, gibt der Review-Artikel einen interessanten und sehr differenzierten Überblick über mögliche positive und negative Auswirkungen virtuellen Arbeitens auf die Berufs- und Karrierechancen von Frauen. Es werden Ansatzpunkte für Interventionen (z. B. organisationale Unterstützungsangebote) aufgezeigt, mit denen die Vorteile virtueller Arbeit für Frauen verstärkt und die Nachteile abgeschwächt werden können. Sehr deutlich wird allerdings auch, dass wir sehr viel noch gar nicht wissen. So fehlen neben Studien zu Langzeiteffekten auch Untersuchungen zu möglichen Veränderungen im Verlauf der Karriere. Zudem sollte die Rolle von Kontextfaktoren wie z. B. die Art des Jobs oder organisationale Unterstützungsmöglichkeiten in zukünftigen Studien genauer untersucht werden. Besprochen von Maie Stein, Arbeitsbereich Arbeits- und Organisationspsychologie und Center for Better Work, Universität Hamburg 1 Das Literatur-Review, um das es im vorliegenden Artikel geht, legt eine binäre Geschlechterordnung zugrunde, die primär zwischen Mann und Frau unterscheidet. Diese Unterscheidung wird für die Beschreibung der Studienergebnisse übernommen. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass es Geschlechter jenseits von (nur) männlich und (nur) weiblich gibt.

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