Personal Quarterly 1/2023

29 01 / 23 PERSONALquarterly Umwelttechnik zum Vorjahr um fünf und zum Vorvorjahr um neun Prozent gestiegen. Ob der Treiber hier eine höhere Attraktivität oder eine höhere Marktnachfrage ist, bleibt jedoch unklar. Ebenso unklar ist, ob die steigende Zahl der Pflegeazubis aus der massiven öffentlichen Präsenz dieses Berufs während der Pandemie herrührt oder aus einer gestiegenen Attraktivitätswahrnehmung des Berufsbilds auf Basis seiner Sinnhaftigkeit. Die Zahl der Aussteiger lässt leider vermuten, dass die Sinnhaftigkeit die schwierigen Arbeitsbedingungen nicht nachhaltig kompensieren kann. PERSONALquarterly: Umgekehrt waren zuletzt auch sog. BullshitJobs, also Arbeitsplätze ohne erkennbaren gesellschaftlichen Nutzen, im Fokus der medialen Diskussion. Lässt sich für bestimmte Arbeitsplätze ein entsprechender Attraktivitätsverlust nachweisen? Jan Kirchner: Wie wir an den beiden Beispielen gerade gesehen haben, bleibt die Ursache von Beschäftigungsschwankungen empirisch meist unklar. So ist z. B. in den letzten fünf Jahren die Zahl der Bankkaufleute um rund 34.000 gesunken. Inwieweit das mit einer rückläufigen Attraktivität des Berufsbilds z. B. in Folge der Finanzkrise zusammenhängt oder mit gehobenen Digitalisierungs- und Automatisierungspotenzialen ist offen. Eindeutiger wird es, wennwir uns die Zahlen derjenigen Ausbildungsberufe ansehen, die am häufigsten unbesetzt bleiben. Unter den zehn am schwierigsten zu besetzenden Ausbildungsberufen finden wir vor allem Berufe im Lebensmittelhandwerk, in Hotellerie und Gastronomie sowie im Bauhandwerk und in der Logistik. Allesamt definitiv keine Bullshit-Jobs, aber offensichtlich von den Arbeitsbedingungen her nicht attraktiv genug. Zumindest bei der zuletzt genannten „Fachkraft für Kurier-Express- und Postdienstleistung“ muss man sich aber auch fragen, inwieweit hier die geringe Bekanntheit der Ausbildung in Verbindung mit dem sprunghaften Anstieg nach Zustelldienstleistungen zu dem Ungleichgewicht führt. Personalmarketingseitig ist die Messbarkeit von Sinnhaftigkeitsargumenten als Konvertierungstreiber bei der Generierung von Bewerbungen deshalb schwierig und kann wissenschaftlich sauber nur innerhalb gleichartiger Berufe und Arbeitsbedingungen erfolgen. Da die meisten Unternehmen noch nicht einmal herkömmliche Konvertierungsraten messen können und den negativen Einfluss von Log-in-Zwang, Anschreibepflicht und verhörartigen Bewerbungsformularen nachvollziehen können, wird diese Hypothese wohl erst mal als solche bestehen bleiben. Meine Hoffnung ruht da eher auf Mitarbeiterbefragungen zur Retention-Forschung. PERSONALquarterly: Die Coronazeit hat viele Veränderungen gebracht. Dabei waren unterschiedliche Attraktivitätsmerkmale betroffen wie flexible Arbeitsortgestaltung, Anforderungen an die Führung oder eben sinnvolle Arbeit. Gibt es hier kurzfristige oder nachhaltige Veränderungen oder Trends aufseiten der Bewerbenden oder Arbeitgeber? Jan Kirchner: In vielen White-Collar-Berufen ist die flexible Arbeitsortgestaltung von einer Vorsichtsmaßnahme zu einem Statusanrecht geworden. Dieser Trend lässt sich global beobachten und sowohl Studien als auch Marktangebote wie Remote-Filter für Stellensuchende beweisen, dass er gekommen ist, um zu bleiben. Arbeitgeber, die hier nicht mitgehen, riskieren eine Abstimmung mit den Füßen. Positiv betrachtet können Unternehmen mit Remote-Angeboten bundesweit oder sogar international um Talente werben und sich in Engpass- und Mangelberufen so einen klaren Vorteil verschaffen. Hier ist aktuell eine spannende Dynamik im Markt zu beobachten. Im Blue-Collar-Umfeld aber auch in White-Collar-Berufen, die ortsflexible Arbeit nicht ermöglichen, wie z. B. im produzierenden Gewerbe, im Gesundheitsbereich oder in der Bauwirtschaft besteht diese Option natürlich nicht bzw. eingeschränkt. Ob die fehlende Arbeitsortflexibilität die Attraktivität dieser Berufe mindert, muss die Zeit zeigen. Ich denke, hier werden die allgemeinen Arbeitsbedingungen eine große Rolle spielen. So machen z. B. die ersten Berichte der Vollzeit-Viertagewoche im Handwerk durchaus Mut, dass es mit attraktiven Bedingungen auch in schwierigen Berufen gelingen kann, Arbeitskräfte zu gewinnen. PERSONALquarterly: Lässt sich für einzelne Berufsbilder ein Attraktivitätszuwachs erkennen? Jan Kirchner: Weder bei den Studiengängen noch bei den Ausbildungsberufen lassen sich bisher grundlegende Verschiebungen in der Berufswahl erkennen. Hier dominieren wie schon in den Vorjahren weiterhin die Klassiker, wie unsere aktuelle Arbeitsmarktstudie gerade wieder bestätigt hat. Nichtsdestotrotz verändern sich natürlich die Beschäftigtenzahlen einzelner Berufen. So ist z. B. die Zahl der Ingenieure für „Purpose kann attraktive Arbeitsbedingungen nur bereichern, aber nicht ersetzen. Das zu akzeptieren, ist meiner Ansicht nach zentral, bevor wir über Messbarkeit sprechen.“ Jan Kirchner, Wollmilchsau

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